Ohne dich ist alles nichts.
Das Nichts ist ohne dich überall.
Unerträglich.
Scharf biss der Geruch nach Elefantendung in der Nase. Der Land Rover holperte über die unwegsame Sandpiste.
Tom klammerte sich an den Haltegriff. „Das ist die Erfüllung deines Traumes?“, witzelte er mit einem Seitenblick auf Elena, die neben ihm auf dem Rücksitz des Land Rovers saß und sich krampfhaft am Vordersitz festhielt, um nicht mit dem Kopf an die Fahrzeugdecke zu stoßen. „Mit vierzig Sachen über eine Sandpiste zu preschen und sich einen Bandscheibenvorfall zu holen?“
Elena nickte. “Ja, mein Lebenstraum ist endlich real.“ Mit Blick auf Hamisi fuhr sie fort: „Gut, dass unser Fahrer sein Handwerk versteht. Als Selbstfahrer wären wir auf diesen Pisten längst aufgeschmissen.“
Tom hatte sie selten so strahlend gesehen und beglückwünschte sich zu seinem gelungenen Geschenk, das das High-light ihres Wochenendes auf Sylt dargestellt hatte. Drei Tage hatten sie sie das Meer, die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings, Champagner und Austern genossen. Am letzten Abend hatte er sie zu einem Candlelight-Dinner ausgeführt. Beim dritten Gang überreichte der Ober Elena einen Brief. „Woher kommt der?“, fragte sie den Ober, doch der hatte sich bereits einem jungen Mann am Nebentisch zugewandt. Tom zuckte ebenfalls in gespielter Ratlosigkeit die Schultern. „Öffne ihn“, riet er ihr.
Der Umschlag hatte die Reiseunterlagen für diese Safari enthalten. Es dauerte einige Sekunden, bis Elena den Inhalt des DIN-A4-Bogens erfasst hatte. Aber als ihr dämmerte, dass sie die Buchungsunterlagen für eine Safari in Tansania in Händen hielt, atmete sie überrascht ein, während sich ihre Augen weiteten.
Tom hatte sein Weinglas erhoben und ihr zugeprostet: „Auf eine abenteuerliche Safari!“
An diesem Abend hatte sie von nichts anderem mehr geredet, ihn mit Fragen gelöchert: „Wann hast du das alles geplant? Mit welcher Fluglinie fliegen wir? Müssen wir uns impfen lassen?“ Er hatte die Details mühevoller Kleinarbeit ausgearbeitet. Ihr Erstaunen darüber freute ihn. Lachend sagte er: „Du kannst die Inquisition gerne fortsetzen, ich habe an alles gedacht.“
Auch an den kalten Sekt auf dem Zimmer, der sie erwartete, als sie nach einem nächtlichen Strandspaziergang in ihrem Hotelzimmer ankamen. Als er nach der gemeinsamen Dusche ihren Rücken mit duftendem Öl einrieb, war das der Auftakt zu einer wunderbaren Nacht.
Den Anflug von Misstrauen, der sich in ihr regte, unterdrückte Elena.
Ihr ansteckendes Lachen riss ihn aus seinen Gedanken. Hamisi hatte den Land Rover gestoppt, weil eine Horde Paviane auf dem Weg lagerte. Elena deutete auf zwei Affen, von denen der größere den Kleineren derart fest am Ohr zog, dass dieser einige Zentimeter vom Boden abhob. Hamisi drehte sich zu Elena und Tom um, die mittlerweile im Wagen unter dem aufgebockten Dach standen, eifrig fotografierend.
„Wir müssen warten, bis die Paviansippe aus eigenem Antrieb weiterzieht. Schließlich gehört dieses Areal den Tieren, wir sind hier die Eindringlinge. Danach fahren wir ins Lager.“
Das braune Gras der Savanne wogte mit jedem Windhauch, der darüber strich. Wolken warfen gleitende Schatten auf die weite Ebene, die der Kraterrand des längst verloschenen Ngorongoro-Vulkans schützend umschloss. Das Farbenspiel aus Licht und Schatten im Einklang mit der ungezähmten Natur ergaben eine magische Komposition aus Ruhe und Wildheit.
Nachdem sie zwanzig Minuten gewartet hatten, machten die Affen immer noch keine Anstalten, weiterzuziehen.
Hamisi sah mit abgeschirmten Augen, dass die Sonne merklich sank, und mit ihr auch die Temperaturen. „Was ich jetzt mache, behaltet ihr für euch, okay?“ Elena und Tom nickten neugierig. Hamisi griff nach seiner Wasserflasche mit aufgeschraubtem Trinkventil. Beherzt drückte er das Plastikgefäß zusammen und lenkte den Wasserstrahl auf das Leittier. Überrascht kreischte das getroffene Männchen, erhob sich auf die Hinterbeine und fletschte sein Gebiss mit beachtlichen Eckzähnen. Es schoss auf das Fahrzeug zu, hielterst im letzten Moment inne, baute sich abermals zu voller Größe auf. „Ja, du bist der große Bwana hier, Bwana kubwa“, lachte Hamisi. Auch seine Zähne leuchteten hell vor der dunklen Haut. Offensichtlich machte ihm die Kabbelei mit den Affen einen Riesenspaß. Der Anführer vollführte einen weiteren Scheinangriff, dann verpasste er dem nächststehenden Männchen eine Kopfnuss und räumte unvermutet das Terrain, dicht gefolgt vom Rest der Sippe.
„Geht doch!“, sagte Hamisi. „Wir müssen vor Anbruch der Dunkelheit im Camp sein. Mit Einbruch der Dämmerung wird es hier draußen sehr gefährlich. Fahren ist dann fast unmöglich, vor allem den Kraterrand hoch. Aber nix erzählen von meiner Wasserpistole, okay?“
Kurz darauf erreichten sie das Zeltcamp am Rand des Ngorongoro-Kraters, das sie mit anderen Touristen teilten.
Neugierig sprang Elena aus dem Auto, um ihr Nachtquartier zu begutachten, während Tom und Hamisi ihre Taschen aus dem Land Rover wuchteten. Keine fünfzig Meter entfernt grasten einige Zebras und auf dem Baum hockten Vögel, die große Ähnlichkeit mit Raben hatten. Hoch oben zogen Geier ihre Bahnen. Der Ausblick in den Krater überwältigte sie. Von hier oben sah er aus wie eine flache Ebene, aber am Kratergrund war es alles andere als topfeben, woran sie ihre schmerzenden Knochen erinnerten.
Tom inspizierte inzwischen mit Hamisi das Lager. Tom wartete bereits den ganzen Tag darauf, mit Hamisi unter vier Augen sprechen zu können. Als sie das Schlafzelt begutachteten, in dem Tom und Elena übernachten würden, erschien ihm die Gelegenheit günstig. Tom sagte: „Hamisi, Elena bedeutet es viel, hier zu sein. Ist es möglich, dass du uns irgendetwas Außergewöhnliches zeigst? Etwas, das andere Touristen nicht zu sehen bekommen?“
Hamisi hielt in seiner Bewegung inne. Er hatte gerade die Matratze des Feldbettes angehoben, um darunter zu schauen, ob dort kein Skorpion Schutz vor der Hitze gesucht hatte. Er richtete sich auf, kaute auf seiner Unterlippe. Er hob zu einer Antwort an, hielt inne, schaute stattdessen durch die Zeltöffnung nach draußen.
Wie oft hatte er davon geträumt, dass ihm genau diese Frage gestellt würde. Er verfügte über ein reichhaltiges Wissen, was die tansanische Wildnis anging, konnte jedoch nur einen Bruchteil davon nutzen. Und er kannte einen Ort, wie er Tom vorschwebte. Vielleicht sprächen sich seine Qualitäten als Guide unter den Unsummen zahlenden Touristen herum. Vielleicht brächte ihn dieses einmalige Wagnis, bei dem er sich über alle Vorgaben, an die er sich als Angestellter halten musste, hinwegsetzte, seinem Traum von einem eigenen Safariunternehmen einen großen Schritt näher. Vielleicht konnte er seine Söhne dann auf Schulen schicken, die er sich in seiner jetzigen Situation niemals würde leisten können.
Zögernd antwortete er: „Safaris mache ich schon, seit ich zwölf war. Das Gebiet hier, die Serengeti Conservation Area, kenne ich wie meine Westentasche, obwohl es riesengroß ist. Ich weiß, was Ihnen vorschwebt, aber – es ist zu riskant.“
„Schade“, sagte Tom. „Ich dachte nur.“
Hamisi zuckte innerlich zusammen. Dass Tom so schnell zurückruderte, kam für ihn unerwartet. Womöglich würde ihm nie wieder jemand diese Frage stellen.
Er bückte sich nach einer Tasche, die neben Tom stand, und flüsterte ihm zu: „Hier können wir nicht sprechen, die Zeltwände sind zu dünn. Ich werde dich heute Abend zu einem Drink einladen. Still jetzt, die Askaris spitzen schon die Ohren.“
Aus den Augenwinkeln sah Tom einen der Nachtwächter, der scheinbar unbeteiligt an einer Petroleumlampe herum werkelte.
Das Lagerfeuer loderte und gelbe Funken sprühten in den nachtschwarzen Himmel. Elena hatte sich in eine Decke gewickelt. In der einen Hand einen Whiskey, in der anderen eine Zigarette genoss sie den Abend in vollen Zügen. Die kühle Nachtluft umspielte ihr Gesicht.
Vor etlichen Jahren hatte sie das Rauchen aufgegeben, zur Vervollständigung ihres Traumes gehörten jedoch sowohl Zigarette als auch Whisky. So hatte sie sich in ihrer Fantasie immer am Feuer in Tansania gesehen, wie zu Zeiten der Großwildjäger und Abenteurer. Sie erinnerte sich an einen Touristen an Bord ihrer Maschine, dessen Outfit dieser Zeit entsprang. In khaki und beige gekleidet trug er eine an den Oberschenkeln ausgestellte Hose, Reiterstiefel und einen Tropenhelm. Tom hatte sich zu ihr geneigt und geflüstert: „Mister Livingstone, I presume?“ Elena hatte ihm in die Rippen geboxt, konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Auch jetzt lächelte sie, während sie den Kopf in den Nacken legte und im Sternenhimmel das Kreuz des Südens ausmachte.
Die Zigarette empfand sie als lästig. Ihre Hand wurde kalt, und der Zigarettenqualm betäubte ihren Geschmacks- und Geruchssinn. Sie drückte sie aus.
Eine wohlige Wärme breitete sich in ihrem Bauch aus, ihr Blick schweifte in die Dunkelheit. Um sie herum lauerten jetzt Hyänen, Löwen und anderes Getier. Und sie hatte das Privileg, mitten unter ihnen sein zu dürfen. Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch, und heute Nacht würde sie wieder versuchen, nicht zu schlafen, um keine Sekunde dieses traumhaften Urlaubs zu versäumen. Durch die Gaze, die in die Seitenwand ihres Zeltes eingenäht war, könnte sie die Sterne funkeln sehen. Allerdings sollte sie dann den Whiskey stehen lassen. Sie schenkte sich nach.
Hamisi trat an Tom heran: „Wenn du möchtest, zeig ich dir meine Gewehre.“ Tom, selbst Jäger, wenn auch im nebligen Hamburg, sprang sofort auf und auch Elena, die sich grad als Großwildjägerin empfand, machte Anstalten, sich aus dem Campingstuhl zu erheben. „Bleib nur sitzen“, sagte Tom. „Hamisi kann dir die Gewehre morgen zeigen.“
Elena plumpste auf ihren Stuhl zurück. Ups, der Whisky wirkte.
Hamisi sprach kurz mit den Askaris, bevor er sich mit Tom ein Stück vom Lager entfernte.
„Wir müssen leise sprechen, Mister Tom. Im Busch hat das Gras Ohren. Ich habe zwar eine Idee, womit du Mama Elena überraschen kannst, aber damit setze ich meinen Job auf´s Spiel. Ranger wie ich haben strikte Vorgaben. Wir dürfen nur auf den Pisten fahren, um die Tier- und Pflanzenwelt möglichst wenig zu stören. Alles andere wäre auch viel zu gefährlich. Ein Moment der Unachtsamkeit, und man erlebt sein blaues Wunder.
Andererseits versuche ich schon lange, diesen Ort, den außer mir nur wenige Einheimische kennen, bei meiner Agentur mit in die üblichen Routen einzubauen, aber mein Chef hört mir nicht zu. Angenommen, ich fahre mit Elena und dir dorthin, würdest du mir anschließend schriftlich geben, wie sehr es dir gefallen hat und wie gut ich meinen Job gemacht hab?“
„Das wär für mich gar kein Problem, Hamisi. Ich kann auch über mein Handy eine Mail an deinen Chef schicken. Oder ihn anrufen.“
„Also“, sagte Hamisi, schaute sich verstohlen um und senkte seine Stimme: “Morgen fahren wir in die Serengeti. Dort ist es einfacher, sich abzusetzen. Ich zeige euch diesen Ort, der auf Kisuaheli „Mwangaza wa miungu“ heißt, was so viel bedeutet wie „Das Leuchten der Götter“. Mama Elena wird begeistert sein. Ich selbst war erst zweimal dort. Aber – zu keiner Menschenseele ein Wort.“
Tom nickte knapp und sagte: „Okay. Wie mit der Wasserpistole, schon klar.“
Hamisi schüttelte energisch den Kopf. „Nein, dieses hier ist viel ernster.“
Tom nickte beschwichtigend und sagte: „Das habe ich verstanden. Und“ – er reichte Hamisi die Hand, in die dieser einschlug – „Ich weiß deinen Einsatz zu schätzen.“
Am späten Vormittag des folgenden Tages hatten sie ihr Ziel erreicht. Die Savanne erstreckte sich majestätisch nach allen Seiten, und dem ungeübten Auge fiel es schwer, Tiere und Pflanzen zu erkennen, die mit dem Hintergrund verschmolzen. Allmählich begriff Tom, wovon ihm seine Frau seit Jahren vorschwärmte: das Gefühl vollkommener Freude, jeden Moment etwas neues, spannendes zu entdecken bis hin zu der Empfindung, selbst ein Teil dieser miteinander verwobenen natürlichen Komponenten zu sein, mit ihnen verschmelzen zu können, sich in ihnen aufzulösen. Gedanken wie ein bekiffter achtzehnjähriger, dachte Tom. Und doch brachte die Umgebung Saiten in ihm zum Klingen, deren Vibrationen er vergessen hatte.
„Schaut mal dort hinüber“, rief Hamisi über die Schulter zu Tom und Elena, die wegen der holprigen Fahrt saßen, obwohl das Hubdach offen stand, und deutete nach rechts auf einen Hügel aus großen Felsen, der sich unerwartet aus der ansonsten flachen Landschaft erhob, umgeben von sattem Grün.
Genau wie im „König der Löwen“, dachte Tom. Das wird Elena gefallen. Mittlerweile leuchtet sie wie die Landschaft. Sie wird mit jedem Tag schöner.“
„Diese Felsenhügel nennt man in Afrika Kopjes. Der Wasserstand ist dort gesteinsbedingt höher als in der restlichen Savanne, deshalb sprießt dort das Wachstum.“ Hamisi sprudelte über vor Mitteilungsbedürfnis. „Die Pflanzen bieten wiederum vielen Tierarten Unterschlupf, Insekten, Reptilien, aber auch Löwen und Geparden, die hier ihre Jungen aufziehen. Diese Kopje ist unser Ziel: das „Leuchten der Götter“.
Bereits vor vier Stunden hatten sie den vorgeschriebenen Touristenpfad verlassen. Hamisi hatte vorsorglich das Ortungsgerät ausgeschaltet, damit die Parkaufsicht nicht mitbekam, dass er sich auf Abwegen befand, was seinen hochkantigen Rauswurf nach sich ziehen würde.
Ohne seine Arbeit sähe er schlechten Zeiten entgegen.
Anders als die meisten Bewohner seines Dorfes hatte Hamisi durch die Touristenorganisation Big-Five-Union, die Safaris quer über den Kontinent anbot, ein gesichertes Einkommen. Als Guide arbeitete er zuverlässig. Gerd, sein deutscher Chef, hielt große Stücke auf ihn und setzte ihn auch in der Nebensaison ein. Das untermauerte Hamisis Unabhängigkeit von den Farmen, die Plantagen mit Bananen oder Kaffee betrieben und hauptsächlich saisonale Arbeitskräfte einstellten. Trotzdem brauchte er für seine Familie – und Familie war in Tansania ein weiter Begriff – viel Geld.
Hinter seiner Hütte bewirtschaftete seine Frau ein kleines Feld, eine Shamba, die einen halben Acre umfasste. Das reichte gewiss für Nahrung, aber nicht für die wachsenden Ansprüche seiner Sippe. Auch die Touristen und vor allem das Internet weckten immer neue Wünsche in seiner Familie, seinem Dorf. Manchmal gewann er den Eindruck, der gesamte Kontinent sei verhext von angefachten Bedürfnissen, die weder dem Dorf noch dem Überleben dienten, sondern lediglich das Ego einzelner befriedigte, die verantwortungslos Geld ins Handy investierten, während die Söhne barfuß, übersät mit Ausschlägen, die mageren Ziegen hüteten. Denn der Klecks Ugalli, mit Wasser aufgekochtes Maismehl, sättigte nur kurzfristig.
„Ein Roho mbaya – ein böser Geist –, das ist das Internet“, dachte er bei sich.
Er seufzte, schaute auf sein Handy, und sah, dass Rastafa ihn „angepiepst“ hatte. Rastafa hatte ihn angerufen, nach einmaligem Klingeln jedoch wieder aufgelegt, um Telefongeld zu sparen. Nun wartete er auf Hamisis Anruf, der die Nachricht vom eingegangenen Anruf allerdings einfach löschte. Rastafa trug sein Handy als Statussymbol. Auch wenn es nicht aufgeladen war, hielt Rastafa es sich ans Ohr und machte eine angestrengte, leicht gereizte Mine, und imitierte so die Geschäftsleute. Tatsächlich wurde ihm dadurch mehr Respekt von den anderen Dorfbewohnern entgegengebracht. Doch sobald er zu Geld kam, lud er sein Handy auf, statt Essen für seine Kinder zu kaufen.
Hamisi schnalzte missbilligend mit der Zunge.
Am Kopje angekommen, einer großen Steinformation aus rundgeschliffenen Felsen, bedeutete Hamisi Tom und Elena, auszusteigen.
„Ist es denn nicht verboten, im Nationalpark das Auto jenseits der ausgewiesenen Plätze zu verlassen?“, fragt sie. Aber Hamisi gab vor, den Einwand nicht zu hören. Zügig marschierte er voran, so dass Elena Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten, und umrundete das Kopje, bis sie vor einem See standen.
„Ihr müsst euch jetzt eng an die Felswand drücken, damit ihr keine nassen Füße bekommt. Wir sind gleich da.“
Tom und Elena drückte sich dicht an den sonnenwarmen Felsen. Einige Grasbüschel unter ihnen boten Trittsicherheit, aber es war nur ein schmaler Weg, auf dem sie sich voran schoben.
Unvermittelt bog Hamisi um eine Ecke, und als Elena es ihm nachtat, öffnete sie vor Erstaunen den Mund.
Sie standen vor einer Höhle. Ihr Eingang war mindestens vier Meter hoch und doppelt breit. Die Grotte war vor Unzeiten von dem Wasser des jetzt angrenzenden Salzsees überschwemmt gewesen. Als der Wasserstand im Laufe von Jahrtausenden sank, blieb das Salz an dem Gestein haften. Daher war sie innen über und über von Salzkristallen bedeckt.
Wie funkelnder Schnee reflektierten die glasgleichen Kristalle das Licht der einfallenden Sonne. In tausendfarbigen Kaskaden warfen sie es auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche des Sees, was zu einem wahren Farbencrescendo führte.
Gebannt schauten Elena und Tom auf dieses Schauspiel, bis Tom sagte: „Wie kommt es nur zu diesen Reflexionen? Ich meine, die Sonne steht fast im Zenit, und der See reflektiert, und …“
„Kopf ausschalten“, flüsterte Elena. „Einfach genießen.“
Hamisi ließ sich wie zum Gebet auf ein Knie nieder: „Wartet noch ein wenig und verhaltet euch ganz ruhig. Es kann nicht mehr lange dauern, dann müssten die Flamingos kommen.“
Sie hockten sich auf einen flachen Felsen am Fuße der Höhle. Hamisi hatte sein Gewehr, ein Heym-Modell, von der Schulter genommen und legte es jetzt quer über den Oberschenkel. Die Big-Five-Union stellte es ihm bei Serengeti-Touren zur Verfügung.
„Die Savanne ist hatari“, sagte er leise. „Man muss immer auf der Hut sein.“
Elena und Tom fühlten sich geschützt in seiner Nähe, Hamisi handelte umsichtig und bedächtig. Sie spürten seine permanente Wachsamkeit fast körperlich. Ab und zu schaute Elena sich ebenfalls um. Allerdings wusste sie, dass sie eine Schlange, einen Löwen oder einen Skorpion in dieser Umgebung wohl nur ausmachen würde, wenn das Tier in signalrot lackiert auf einem Tablett drapiert wäre. Die Tarnung der Tiere und das Verschmelzen mit ihrer Umgebung waren derart perfekt, dass selbst eingefleischte Ranger wie Hamisi ihnen einen gesunden Respekt zollten.
Elena genoss die frische Luft und sog sie tief ein. Sie horchte, hörte aber keinen Laut, der nicht natürlichen Ursprungs war. Wie den Wind, der über den See strich und sich im Höhleneingang verfing.
Als sich die rosa- bis korallenroten Flamingos – es waren mehrere Hundert – sich auf dem See niederließen, spiegelte sich das Licht des Salzes im Wasser, auf den Vögeln und zerbarst in tausendfacher regenbogenfarbiger Herrlichkeit. Eine neue, nie gesehene Welt vollbrachte ein wunderbares Schauspiel. Die Schönheit trieb Elena die Tränen in die Augen, und sie spürte, dass Tom nach ihrer Hand griff. Sogar Hamisi murmelte: „Beautiful. Just beautiful.“
Plötzlich spritzte das Wasser in der Nähe auf. Mit rasender Geschwindigkeit bewegte sich eine große, bräunliche Masse auf sie zu, mitten durch den Flamingoschwarm, der aufgeregt auseinanderstob. Dann schäumte das Wasser blutrot auf. Wie ein schlammiger Wirbel brodelte es um zwei Flamingos, die plötzlich unter Wasser gezogen wurden.
Als sich die Oberfläche glättete, schaukelten purpurne Federn auf ihr.
„Himmel, was war das denn?“, rief Elena entsetzt.
Tom flüsterte: „Krokodile.“
„Los, los, ins Auto“, drängte Hamisi, und Elena kam es vor, als zittere seine Stimme. „Mit vorsichtigen Bewegungen. Langsam, polepole.“ Mit behutsamen Schritten, den Gewehrlauf auf den Ufersaum des Sees gerichtet, vergewisserte Hamisi sich mit einem Blick über die Schulter, dass Tom und Elena ihm folgten.
Im Auto ging Elenas Atem stoßweise, sie spürte ihren Herzschlag in der Kehle. „Du meine Güte, wir hätten gefressen werden können.“ Als könnten ihnen die Krokodile noch immer auf den Fersen sein, vergewisserte sie sich, dass die Autotür des Land Rover Defenders fest verschlossen war. Sie deutete auf ihre olivgrüne Hose: „Klitschenass bin ich. Die waren viel zu dicht.“
Tom versuchte, sie zu beschwichtigen: „Das ist nur Spritzwasser. Die waren schon noch ein Stück entfernt. Außerdem hatten sie es auf die Flamingos abgesehen, nicht auf uns“, ergänzte er lahm.
„Das ich nicht lache! Quatsch, ich konnte ja fast ihren stinkenden Atem riechen!“ Elena wusste selbst, dass sie übertrieb. Aber ihr Adrenalinspiegel war so hoch, dass sie entweder mit Tom streiten oder einfach nur schreien müsste. Da kam ihr ersteres sinnvoller vor. Obwohl – Hamisi war ja auch noch da.
„Hamisi“, schoss sie also in seiner Richtung. „Was hast du dazu zu sagen? Verdammt, du musst doch auf uns aufpassen! Ich hab doch noch gesagt, dass wir den Wagen eigentlich nicht verlassen dürfen. Was hast du dir dabei gedacht?“
Elena wusste, dass es eine schlechte Idee war, einen Tansanier als Frau derart anzugehen, jedoch saß ihr der Schrecken immer noch in den Knochen.
„Mambas, Krokodile, Mama Elena, habe ich hier noch nie gesehen. Aber so ist die Serengeti“, sagte er und nickte mit herabgezogenen Mundwinkeln. „Unberechenbar. Wunderschön, und, sobald du sie bewunderst – zack!“ Trotz seiner Erklärungen stand Hamisi ebenfalls der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Unversehens schlug er auf das Armaturenbrett und verfiel ins englische: „Wir hatten fucking damned luck! I´m realy shocked!“, sagte er. Dann besann er sich seiner Aufgabe und zwang sich zur Ruhe. „Okay. Das war ein gelungenes Abenteuer, oder?“ Er lächelte schief. Bei sich überlegte er, was er sagen könnte, damit seine Gäste die Geschichte heute Abend nicht am Lagerfeuer zum Besten gäben. Aber erst einmal losfahren. Es würde sich schon noch eine Gelegenheit ergeben. Zuerst mussten seine Schützlinge wieder Vertrauen in ihn fassen. „Wir brechen jetzt umgehend wieder auf, wenn ihr okay seid. Wie geht es dir, Elena? Bereit für eine weitere Pistenfahrt?“
Aber Elena reagierte nicht, sondern starrte nur wütend aus dem Fenster.
„Tom?“, fragt Hamisi.
„Ja, klar. Kann wieder losgehen.“ Er wollte seine Hand beruhigend auf Elenas legen, aber diese zog sie weg. Kurz überlegte sie, ob sie ihm den ausgestreckten Mittelfinger zeigen sollte.
Hamisi sagte: „Wir brauchen noch mindestens fünf Stunden bis ins Camp, und ich möchte zum Einbruch der Dämmerung dort sein. Hebu tuende, los geht´s.“
Das Lenkrad fest umklammert, fuhr Hamisi so zügig, wie es der unebene Untergrund zuließ.
„Woran orientierst du dich eigentlich?“, fragte Tom.
„Es ist Außenstehenden schwer zu beschreiben, aber für mich ist die Landschaft ein offenes Buch. Es ist der Stand der Sonne, ein ausgetrocknetes Flussbett, es sind die Hügel. Viel Instinkt, ein innerer Kompass. Heute Abend werde ich euch ein Lied darüber vorsingen, am Feuer, beim Whisky.“ Er lächelte Elena an. „In Städten, ja, da habe ich Probleme mit der Orientierung. Aber hier? Hapana, Bwana, hakuna matata.“ Er hatte den Kopf leicht nach hinten gedreht, in Toms Richtung.
Der Defender rumpelte über den hartgebackenen roten Boden und durch olivgrünes, trockenes Grün, als etwas unter dem Wagen entlang schabte. Kurz darauf schleuderte der Wagen. Hamisi brachte ihn schlingernd zum Stehen.
„Damned, Reifenpanne!“, sagte er, suchte mit den Augen die Gegend ab, um dann mit einem Satz aus dem Wagen zu springen. „Aber hakuna matata“, beschwichtigte er im gleichen Atemzug, um die gerade wieder hergestellte friedliche Stimmung nicht zu gefährden, „Kein Problem. Das ist hier häufig der Fall.“
Schon öffnete er die Heckklappe und kramte nach dem geeigneten Werkzeug. Sich über Tom hinweg lehnen sah Elena durch das Seitenfenster, wie er den Wagenheber ansetzte, den Wagen hochpumpte.
„Oh no! Bloody shit!“
„Was ist los?“, fragte Tom, der die Scheibe heruntergedreht hatte, sich aus dem Seitenfenster lehnte.
„Die Ölwanne! Wir haben einen spitzen Stein erwischt, der aus dem Boden ragt. Dort drüben, siehst du?“
Tom sah keinen Stein, was ihm allerdings belanglos erschien, nickte aber. „Und nun?“, fragte er.
„Ich weiß noch nicht. Muss mir erst einmal den Schaden genauer betrachten.“
Bevor er den Wagen aufbockte, gab er Elena und Tom ein Zeichen, aus dem Land Rover zu steigen. Mit angespannter Mine reichte er Tom das Gewehr. „Hier. Du musst uns sichern. Setz dich auf die Motorhaube. so kannst du das Gewehr sicher halten. Elena, nimm das Fernglas, kletterte über die Haube auf das Wagendach. Such mit ruhiger Hand langsam die Gegend ab. Immer rundherum, wie ein Mungo. Wenn euch etwas verdächtig erscheint, sagt sofort Bescheid, verstanden?“
Elena nahm den Feldstecher. „Soll ich nicht einfach Hilfe herbeirufen?“ Sie hielt ihr Handy hoch.
„Keinen Zweck, kein Netz“, sagte Hamisi ungehalten. Außerdem bin ich meinen Job los, wenn man uns hier herausholen muss, dachte er wütend. „Hätte Bwana Tom nicht …“
Toms warnender Blick brachte ihm zu Bewusstsein, dass er die letzten Worte laut ausgesprochen hatte. Schnell verschluckte er den Rest.
Elena war gerade im Begriff, auf das Wagendach zu steigen. Sie wandte sich halb um, fragte: „Hätte Bwana Tom nicht – was, Hamisi? Was hätte Tom lieber bleiben lassen?“
„Nichts, Elena.“ Er schüttelte kurz den Kopf. „Egal, ich tauch dann mal ab.“
Elena sparte sich weitere Fragen für später auf.
Hamisi verschwand unter dem Wagen. Nur seine Beine ragten hervor.
„Die Ölwanne ist eingerissen.“ Hamisis Stimme klang gedämpft. „Ein dreieckiger Zacken zeigt nach unten. Ich werde ihn wieder grade klopfen, dann das Ganze mit Isolierband abdichten. Hab alles dabei. Muss ja nicht allzu lange halten. Hauptsache, wir kommen bis ins Camp.“ Seine Stimme klang erleichtert. Um die Situation zu entspannen, witzelte er: „Hamisi geht auf Tauchstation, keine Sorge, er macht das schon.“ Elena lachte beklommen, während sie mit dem Fernglas die Umgebung absuchte. Auf dieser Safaris hatten sie schon häufig Löwen gesehen, auch Löwinnen auf der Jagd. Deshalb wusste sie, welch perfekte Tarnung das Gras, das im Farbton ihrer Mähne glich, ihnen bot. Elena konnte noch so sehr ins Fernglas starren: Ob sie Löwen oder andere Raubtiere erkennen würde, hielt sie für mehr als fragwürdig.
Währenddessen stand Tom mit dem Gewehr im Anschlag da. Ihm selbst erschien das zwar reichlich übertrieben, aber nach der Sache mit dem Krokodil steckte ihm der Schreck noch in den Gliedern. Seine Hände zitterten leicht. Er sehnte sich nach einem Sundowner im Camp, einem Whisky und ein Barbecue. Zugegeben, er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, eine Großwildjagd zu erleben. Aber im Moment fühlte er sich eher als mögliche Beute, auf der Motorhaube hockend, weithin sichtbar, wie auf einem dem Präsentierteller.
Elena saß auf den Knien auf dem Wagendach. Sie schwenkte das Fernglas in langsamem Tempo von rechts nach links, von links nach rechts und sah nichts als rote Erde, Gras und Steine. In großer Entfernung schritten Giraffen, deren Silhouette sogar ihr ungeschultes Auge erkannte. Sie staunte über die Weite des Horizontes. Der blaue Himmel erstreckte sich ins scheinbar Endlose. Obwohl sie nicht weit gefahren waren, war der See nicht mehr auszumachen.
Sie spürte einen Ruck. Instinktiv hob sie ihr Gesäß, um ihr Gleichgewicht zu halten. Der Wagen hatte sich merklich gesenkt. Verblüfft schaute sie zu Tom, der ebenfalls seine Position geändert hatte.
„Tom? Das Auto!“ Halb fragend sah sie ihn an.
Tom beugte sich über den Rand der Haube. „Hamisi?“, fragte er.
Auch Elena schaute von oben über die Fahrzeugseite hinab.
Hamisis Beine zuckten.
Tom sprang von der Haube. Er ließ sich auf die Knie fallen: „Hamisi, hey, hörst du mich?“ Er schlug mit der flachen Hand gegen die Seitentür. „Hey, Hamisi!“
Ein gurgelndes Geräusch bahnte sich seinen Weg unter dem Auto hervor.
„Hamisi?“, rief Elena und starrte auf die Füße des Rangers, die sich langsam nach innen drehten und dann abrupt zur Seite fielen.
„Tom! Was ist passiert? Tu was!“
„Der Wagenheber ist zusammengekracht oder so. Das Auto liegt auf ihm drauf. Oh, verdammt noch mal!“ Er fasste mit beiden Händen unter die Karosserie und versuchte, sie hochzuheben. „Komm, fass mit an. Oder hol Steine zum darunterlegen.“
In der Ferne hörten sie das tiefe Grollen eines Löwen. Zwar wusste Elena, dass die Geräusche der Löwen weit trugen, aber beruhigen konnte sie der Gedanke dennoch nicht. Elena sah Tom entgeistert an. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich hier herumlaufe und Steine suche. Wir können Gegenstände aus dem Wagen nehmen.“
„Das Ersatzrad oder was? Vielleicht das, was Hamisi grad montiert hat?“ Seine Stimme klang jetzt schrill, aufgebracht und zornig.
„Quatsch, aber den defekten Reifen vielleicht. Außerdem“, sie schaute nach unten. „Außerdem ist der Wagenheber nicht defekt. Er ist weggesackt. In eine Höhle oder so etwas. Vielleicht von einem Warzenschwein. Könnte sein. Oder vielleicht …“
„Lass mal sehen“, unterbrach Tom sie ungeduldig. „Ja, der Wagenheber ist okay. Hamisi, wenn du uns hörst: Wir holen dich da raus. Es dauert nur eine Minute, hörst du? Rede mit ihm, Elena. Vielleicht kann er nur nicht sprechen. Aber er darf nicht bewusstlos werden, wenn er es nicht schon ist.“
Elena kniete sich hin: “Hamisi, du musst tapfer sein. Atme weiter. Denk an deine wunderschöne Frau. Sie hat doch so einen schönen Hintern. Ich hab gehört, wie du dem Koch davon erzählt hast.“ Tränen der Verzweiflung rannen ihr über die Wangen, während sie sich selber quasseln hörte. Aber wenn sie aufhörte, würde sie durchdrehen. Trotz der Tränen lächelte sie jetzt. „Und deinen Sohn, der so stolz auf seinen Papa ist, der die Serengeti kennt wie kein zweiter. Einen kleinen Moment nur, Hamisi! Wir ziehen dich gleich raus.“
Tom hatte den Wagenheber mittlerweile ausgegraben, das Fahrzeug wieder aufgebockt und zusätzlich mit dem kaputten Reifen gegen einen erneuten Einsturz gesichert. Jetzt kroch er unter den Land Rover.
„Hamisi!“ Elena hörte das Entsetzen in seiner Stimme. „Verdammt noch mal, Hamisi. Wie konnte das passieren?“
Elena kniete sich in den Staub und hatte Angst, selbst nachzusehen. Deshalb lehnte sie die Stirn gegen die Karosserie.
„Der Wagen hat auf seinen Rumpf gedrückt. Aber nicht nur das. Es ist die Metallspitze! Sie steckt genau zwischen seinen Augen.“
Jetzt schaute auch Elena unter den Wagen. Der Metallzacken steckte immer noch in Hamisis Kopf, fixierte sein Gesicht dicht am Unterboden des Autos. Zwischen seinem Hinterkopf und dem sandigen Boden hätte ein Kaffeebecher Platz gefunden.
Während die Zeit still zu stehen schien, wandelte sich der Schock zum Trauma. Elena drehte würgend den Kopf zur Seite, ohne den Blick vom schreckgeweiteten Auge Hamisis wenden zu können. Tom lag immer noch auf den Knien, den Kopf eingezogen zwischen den gekrümmten Schultern.
Die Sonne zog weiter ihre Bahn.
Schließlich sagte Tom mit zitternder Stimme: „Wir müssen ihn ins Auto legen, zusehen, dass wir hier herauskommen. Ich repariere das Auto so, wie Hamisi es vorhatte. Wir dürfen nicht schlapp machen, müssen kämpfen! Hilf mir, ihn herauszuziehen.“ Er schob sich unter das Auto, umfasste Hamisis Kopf mit beiden Händen. Eine Entschuldigung murmelnd befreite er ihn mit einem beherzten Ruck von dem Metallzinken. „Elena, fass jetzt seine Beine. Zieh.“ Er sah, wie Elena zögernd nach Hamisis schwarzem Schnürstiefel griff, dann aber mit dem eigenen Fuß begann, Dornen zur Seite zu fegen. „Lass die Stacheln, sie können ihm nicht mehr weh tun. Du musst richtig zufassen, Elena. Warte, ich kümmere mich um das andere Bein. Wir verfrachten ihn hinten in den Gepäckraum; von der Rückbank würde er herunterrollen.“
Es widerstrebte Elena, dass Tom von Hamisi sprach wie von einem sperrigen Korbsessel. Schließlich war es erst eine Stunde her, dass sie zusammen gelacht hatten. Elena öffnete die Heckklappe der Ladefläche, die mit Ausrüstungsgegenständen für die Safari vollgestopft war.
„Hier passt er nicht hinein“, rief sie Tom über die Schulter zu. „Wir sollten versuchen, ihn direkt hinter den Vordersitzen im Fußraum zu verstauen. Vielleicht lässt sich die Rückbank herausschrauben, um Platz zu schaffen. Bis wir zurück im Camp sind, hat die Totenstarre eingesetzt, dann kann es sein, dass sich der Leichnam verklemmt. Wir müssten ihm die Knochen brechen …“, sie stockte. Hatte sie gerade nicht noch gedacht, dass Tom von Hamisi redete wie von einem Möbelstück? Jetzt machte sie das Gleiche. Zögernd beendete sie ihren Gedankengang. „Naja, dann bekommen wir ihn nicht mehr heraus.“
Tom schaute sie an, nickte. „Ich brauche das Werkzeug.“ Er ging um den Wagen herum und öffnete die Heckklappe. Gestapelt standen hier diverse ausrangierte Apfelsinenkisten, zusammengeklammert aus hellen, dünnen Holzlatten. Auf einigen prangte der Aufdruck einer Orange mit Stängel und Blatt, weitere waren zudem mit dicken Pinselstrichen beschriftet.
„Die Beschriftung ist auf Suaheli. Ich werde alles auspacken müssen.“ Er machte sich an die Arbeit, stieß jedoch schnell auf die Werkzeugkiste, eine blaue Metallbox, wie sie auch in europäischen Baumärkten erhältlich war. Er nahm sie, ging abermals um den Wagen herum, stellte sie auf die hintere Rückbank und begann dann, mit einem Maulschlüssel, Schrauben zu lösen.
Elena blieb am Heck des Wagens, schob unschlüssig ein paar Kisten zur Seite, überlegte, ob es Sinn machte, ihren Inhalt zu prüfen, als sie etwas leuchten sah.
Es war Toms Handy. Offensichtlich war es aus seiner Hemdtasche gerutscht, als er sich in den Laderaum gebeugt hatte.
Elena griff danach, stutzte. Das Display zeigte eine gespeicherte SMS. „Honey Tom- Tom, ich will und kann nicht ohne Dich! VERZWEIFLUNG! Hdgdl! Sillevie“. Elena starrte auf die Nachricht. Sillevie? „Hab dich ganz doll lieb“? Ihr schwindelte. Deshalb diese Reise? War das der Grund für seine plötzliche Anwandlung, eine Safari zu machen? „Verrat“, flüsterte eine Stimme in ihr, „Er hat deinen Traum benutzt, um sich reinzuwaschen von seinem schlechten Gewissen.“
Eine heiße Welle brandete durch ihren Körper.
Sie hob das Gewehr aus dem Staub. Schwer und beruhigend schmiegte sich das braune Holz in ihre Handfläche. Sie legte es an, richtete es in die Weite der Serengeti. Es wäre einfach, sich in seine Richtung zu drehen, abzudrücken.
„Du bist ja verrückt!“, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. „Du kannst ihn doch nicht erschießen.“
„Sagt wer?“, hielt eine zweite erbittert dagegen. „Er hat dich betrogen, dich verarscht. Seine neu erglühte Liebe – alles nur Show, um sein Gewissen zu beruhigen. Knall ihn ab.“
„Stopp“, meldete sich die erste Stimme wieder zu Wort. „Nicht so schnell! Wenn du ihn abknallst, sitzt du hier alleine. Lass ihn erst den Wagen reparieren.“
„Elena, reich mir mal den Schraubenzieher“, riss Toms Stimme sie aus ihren Gedanken.
Elena starrte angewidert auf das Gewehr und warf es zurück in den Staub, über sich selbst erschrocken. Sie bemerkte die aufsteigende Hysterie. War sie denn von allen guten Geistern verlassen? Sie wischte sich die schweißnassen Hände an der Hose ab.
Mit einem Knall warf sie die Heckklappe zu. Jetzt war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, um ihre Beziehung zu klären, noch nicht einmal, um sich Gedanken darüber zu machen.
Tom wuchtete die gelösten Rücksitze aus dem Wagen. Verloren standen sie neben Hamisis totem Körper. Hoch am Himmel kreisten erste Geier.
Tom lief der Schweiß in die Augen, unwirsch wischte er ihn mit dem Hemdärmel ab. Unter erheblichem Kraftaufwand gelang es ihnen, den geschundenen Körper Hamisis hochzuhieven und in das Fahrzeug zu bugsieren. Elena zog von der gegenüberliegenden Seite, während Tom Hamisis Körper hochwuchtete, stieß und drückte. Anfangs ließen beide Vorsicht walten, aber je mehr ihre Kräfte nachließen, umso rauer gingen sie vor. Sie legten eine Atempause ein, bis Tom sagte: „Auf drei“, woraufhin Elena ihre restlichen Reserven aktivierte.
Als Tom Hamisis Kopf auf dem Wagenboden ablegte, zog Elena ein letztes Mal an seinen Beinen, so dass Hamisi einigermaßen grad auf dem Rücken lag. Allerdings musste sie seine Beine leicht anwinkeln, um die Tür schließen zu können.
Hamisis aufgerissene Augen starrten wie blinde Spiegel in den Fahrzeughimmel.
„Wir sollten was auf seine Augen legen, damit sie nicht offenbleiben“, sagte Elena. „Gib mir mal dein Portemonnaie.“ Sie ging auf die andere Seite des Land Rovers, wo Hamisis Kopf lag, schoss seine Lider und legte zwei Silbermünzen darauf. Eine Münze rollte zur Seite und fiel mit leisem „Pling“ auf den Metallboden. Sie zuckte zusammen. Mit den Münzen sah er seltsam aus. Als hätten ihm Kinder während des Schlafens einen Streich gespielt. Wäre da nicht das Loch in seiner Stirn. Sein Mund stand offen. Auch das Kinn sollte ich hochbinden, dachte Elena. Aber dazu hatte sie keine Kraft mehr. Sachte breitete sie eine dunkelblau- und rotkarierte Shuka, einen Massai-Umhang, den Elena am Eingang zur Serengeti gekauft hatte, über ihn aus.
Tom nahm den Hammer, kroch unter den Wagen und machte sich an die Reparatur der Ölwanne.
Beide schwiegen jetzt. Es schien ein stiller Kompromiss zu sein, denn jedes Wort, das sich auf die gegenwärtige Situation bezog, könnte Furcht vor den folgenden Stunden erzeugen. Solange sie schwiegen, konnten sie sich der Hoffnung hingeben, dass der jeweils andere ihre Situation als weniger prekär einschätzte als man selbst.
Nach dem provisorischen Flicken der Ölwanne verschwand Toms Kopf unter der geöffneten Haube. Er löste den Öleinfüllstutzen und leerte zwei Flaschen Motoröl. Braun und zäh verschwand es im Inneren der Maschinerie. Dann ging er um den Wagen herum, schlug die Heckklappe zu und setzte sich hinter das Lenkrad auf der rechten Seite.
„Jetzt gilt´s!“, sagte er und drückte rasch Elenas Hände, die ineinander verschlungen in ihrem Schoß lagen. Er holte tief Luft und drehte den Schlüssel um. Problemlos sprang der Wagen an. Vorsichtig betätigte Tom das Gaspedal. Langsam rollte der Wagen vor, nahm Fahrt auf.
Vor Erleichterung schloss Elena die Augen und stöhnte leise auf.
„In welche Richtung fahren wir?“ Ihre Stimme klang belegt und sie räusperte sich.
„Ich gehe davon aus, dass die von Hamisi eingeschlagene Richtung die richtige ist. Ich visiere einen weit entfernten Punkt an, auf den ich zufahre. So müssten wir früher oder später auf die Piste kommen. Danach richten wir uns nach dem Sonenstand.“
Elenas innere Stimmen meldete sich wieder zu Wort: „Aber wenn es mehrere Pisten gibt, Elena? Was ist, wenn Hamisi die Richtung nur eingeschlagen hat, um ein Hindernis zu umfahren? Oder wenn ein Fluss oder ein tiefer Graben unseren Weg kreuzt?“. Oder aber, und dieser Gedanke ängstigte sie am meisten, wenn die Sonne fiele und die Nacht einbräche, bevor sie das Camp erreichten?
Jedoch sprach sie keinen Einwand laut aus, denn ein alternativer Ausweg aus dieser Misere fiel ihr nicht ein.
Während die Sonne den Zenit verließ und ihre Reise gen Westen fortsetzte, hielt Tom die von Hamisi eingeschlagene Richtung bei. Lediglich ihre Trinkflaschen füllten sie bei einem kurzen Zwischenstopp aus den Kanistern auf, die sich im Heck befanden.
Einige der Obstkisten waren verrutscht, drückten gegen Hamisis Leichnam.
Elena bemerkte den feuchten Fleck, der sich auf der Schuka abzeichnete, dort, wo sich Hamisis Becken befand. Jetzt, da der Wagen stand, nahm sie den Geruch nach Fäkalien wahr, den vorher der Fahrtwind verwirbelt haben musste. Tom warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, der ihr signalisierte, diesen Umstand nicht zu kommentieren.
Als sie weiterfuhren, sagte Tom, der den Wagen zusammen mit Hamisi beladen hatte: „Im Auto sind noch einige Konserven mit Eintöpfen, Suppen, etwas Brot, Kuchen und sogar Dauerwurst. Wir werden also weder verhungern noch verdursten. Sogar Whisky ist an Bord. Früher oder später gelangen wir ins Camp. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.“ Letzteres klang für Elena wie ein Befehl, unterstrichen durch Toms Nicken. Doch seine Worte zeigten Wirkung: Elena entspannte sich.
Ihr Blick streifte über die Savanne. Sie verließ sich auf Tom, ihren Mann, der das Fahrzeug wieder „flottgemacht“ hatte, der diese lebensbedrohliche Situation souverän meisterte. Der ihr versicherte, dass sie weder verhungern noch verdursten musste. („Der dich aus dem Auto aussteigen ließ, um deine Wasserflasche aufzufüllen“, bemerkte Elenas innere Stimme mit aufsässigem Ton. „Und damit riskiert, dass dich ein Löwe entdeckt, der sich in Vorbereitung auf das Festmahl schon mal die Serviette in den Mähnenkragen stopft. Oder Tiere mit S – Sssscorpion oder Schchchchlange. Klingt wie das Drehbuch zu einem simplen Afrika-Krimi, vor allem, wenn da auch noch eine „SILLEVIE“ im Spiel ist.“)
Elenas Entspannung verabschiedete sich wie Hamisis Geruch mit zunehmendem Fahrtwind. Sie knetete die Hände, wägte gedanklich ab: Sollte sie preisgeben, dass sie von der Affäre wusste, oder sollte sie lieber „stille halten“, um dann, in sicherer Umgebung, das Feuer zu eröffnen?
Ohne bewusst einen Entschluss gefasst zu haben, schossen die Worte aus ihr heraus:
„Mir ist dein Handy in die Finger gekommen.“
„Gib es mir, bitte. Ich taste die ganze Zeit danach, obwohl ich weiß, dass es irgendwo hinten liegt.“
„Tom, wer ist Sillevie?“
Er zog scharf die Luft ein, schloss kurz die Augen. „Verdammt!“
Abrupt schlugen seine Hände auf das Lenkrad.
Er hätte vorsichtiger sein sollen, viel diskreter. Auch nachdem er Sillevie den Laufpass gegeben hatte. Mit dieser Trennung schien das Kapitel abgeschlossen zu sein. Aber er hatte sich offensichtlich geirrt.
Er stoppte den Wagen und drehte den Kopf zu Elena. „Es ist vorbei. Da war mal was, ja – aber jetzt ist es vorbei.“
Elena fixierte eine Gnuherde, elf Kühe – sie zählte sorgsam nach – und ein Bulle präsentierten sich geschätzte fünfzig Meter vor ihrem Fenster. „Einfach so?“
„Ja.“
„Ja“, imitierte sie seine Stimmlage. „Jaaa!“ Sie wiederholte das Wort, den Wortklang, eine Oktave höher. Sie schluckte. „Erzähl´ mir doch nix. So einfach ist es nie! Für diese „Sillevie“ jedenfalls ist es nicht so einfach.“
„Elena, hör mir genau zu. Was ich dir jetzt sage, ist sehr wichtig: Es wird nie mehr eine andere Frau geben als dich.“
„Pah“, schnaubte sie. „Rutsch bitte nicht in Klischees ab. Das ist so billig. Billig – vielleicht ist das das Wort, was unsere Situation am besten beschreibt. Er betrügt sie, und um sein Gewissen zu beruhigen, macht er ihr ein Geschenk. Ich fühle mich so – benutzt.“
„Elena, ich wollte …“
„Vergiss es!,“ fuhr sie ihn an. „Nicht hier und nicht jetzt. Lass mich in Ruhe und sieh einfach zu, dass wir das Camp finden! Das ist doch im Moment wohl das Wichtigste! Und fass mich nicht an“, sagte sie. Energisch wischte sie seine Hand weg, die er auf ihren Schenkel legte. Dann wandte sie sich demonstrativ mit verschränkten Armen zum Fenster.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang, es war ungefähr halb sechs, und die Sonne ging hier in Äquatornähe zuverlässig um halb sieben unter. „Da kann man die Uhr nach stellen“, erzählte man lachend jedem Neuankömmling. Das Lachen war Elena und Tom inzwischen vergangen, aber sie hatten zumindest noch Zeit, ihr Ziel vor Einbruch der Nacht zu erreichen.
„Stopp, Tom. Fahr mal ein Stück zurück. Das war doch die Piste.“
Für ungeübte Augen war das Erkennen von Pisten im Gelände schwierig. Tom setzte ein Stück zurück, und wirklich, rechts und links von ihnen erstreckte sich eine ungefähr zehn Meter breite Spur, die allmählich mit der angrenzenden Savannenlandschaft verschmolz. Das hohe Gras lag flach, als wäre ein Windstoß hindurchgefahren.
„Wir fahren jetzt nach Westen“, entschied Tom, „der Sonne entgegen. Sieh mal“, er deutete mit dem Finger, „dort müsste sie untergehen.“
Elena nickte erleichtert. „Dem Himmel sei Dank. Und da – die Steinhügel. Die haben wir doch auf der Herfahrt auch schon gesehen, oder? Du meine Güte, wenn wir doch nur erst im Camp wären.“
Aber gleichzeitig fiel ihr ein, welch eine traurige Last sie im Wagen hatten. Sofort war ihre zuversichtliche Stimmung wieder dahin. Jetzt, so dicht vor dem Ziel, wäre sie gerne weiter gefahren, um dem Unvermeidlichen zu entgehen: dem Entsetzen der Campmitarbeiter, der Befragung durch die Polizei und dem Kontakt mit Hamisis Familie. Es würde Ermittlungen geben, ihr Urlaub wäre beendet.
Sie folgten der Piste, während Elena immer wieder ihr Handy überprüfte.
„So langsam müssten wir doch wieder Netz haben.“
„Das ist nicht gesagt“, sagte Tom. „Eine Lodge oder gar ein Camp bedeuten noch nicht das Zentrum der Zivilisation in dieser Riesensavanne. Schließlich umfasst die Serengeti fünfzehntausend Quadratkilometer. Davon ist nur ein Bruchteil erschlossen.“
Schweigend fuhren sie weiter. Plötzlich sagte Tom. „Verdammt, ich muss tanken. Die Nadel steht bereits auf Reserve.“
„Wieso hast du beim letzten Stopp den Tank nicht nachgefüllt?“ Elena hörte selbst den Vorwurf, der in dieser Frage mitschwang.
„Weil ich es schlicht vergessen hab, Miss Neunmalklug. Kann vorkommen, oder?“
„Kann vorkommen, ja. Aber es darf nicht vorkommen, nicht hier. Du setzt unser Leben auf´s Spiel mit deiner ewigen Unzuverlässigkeit.“
Er starrte sie böse an. „Mit an den Haaren herangezogenen Verallgemeinerungen kommen wir bestimmt nicht weiter. Du hast schließlich auch nicht dran gedacht, oder? Nur deinetwegen sitzen wir hier doch bis zur Halskrause in der Scheiße.“
„Meinetwegen? Wieso meinetwegen?“
„Weil ich Hamisi gebeten habe, dir etwas besonders Schönes zu zeigen. Deshalb. Weil ich dir eine Freude bereiten wollte!“
„Damit ich dir nicht auf deinen Seitensprung komme, meinst du wohl. Das hast du ja sauber hingekriegt. Bravo!“
Tom bremste den Wagen und reichte ihr das Gewehr. „Ich hole den Benzinkanister hinten ´raus. Du kletterst wieder auf das Autodach über dem Fahrerraum, von dort hast du den besten Überblick.“
„Sagte Crocodile Dundee, und schwang sich zum Helden auf“, sprach sie den Satz zu Ende und schaute ihn herausfordernd an.
„Hast du vielleichte eine bessere Idee? Ist mir etwas entgangen? Vielleicht eine Tankstelle mit belegten Brötchen und einer Sanifair-Toilette?“ Er wischte sich durch das Gesicht und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. „Mach jetzt einfach, was ich dir sage. Später kannst du dann wieder das Kriegsbeil schwingen. Aber unsere Situation ist heikel. Sehr heikel. Also?“
Wütend blitzte Elena ihn an, öffnete dann aber doch die Tür und machte Anstalten, über die Motorhaube über das Ersatzrad auf das Dach zu klettern. Tom reichte ihr durch das Fenster das Gewehr nach oben, verließ den Wagen. Bisher hatte er schlichtweg vergessen, sich um ihren Benzinvorrat zu sorgen. Da sowohl Werkzeug, Wasser und Essen als auch Gewehre und Munition reichlich vorhanden waren, verpackt in Kisten. Auch Motoröl, abgefüllt in Plastikflaschen. Aber Benzinkanister?
Voller banger Hoffnung lief Tom um den Wagen herum und öffnete die Hecktür. „Ich werde wieder alles auspacken müssen. Und wenn ich schon dabei bin, sollte ich schon mal schauen, ob wir Taschenlampen haben. Unsere sind im Camp geblieben. Es wird gleich stockduster.“
Elena saß auf dem Autodach. Ein sachter Wind strich ihr durch das Haar. Leise sagte sie: „Ich hab Angst, Tom.“
„Nicht“, wehrte er ab, „nicht.“ Nach kurzem Zögern schaute er zu ihr hoch und sagte eindringlich: „Es wird alles gut. Du kannst mir vertrauen, Elena. Ich verspreche es dir.“ Beide wussten, dass seine Worte mehr einschlossen als die gegenwärtige Situation. Elena bemühte sich, ihm zu glauben. „Warte“, sagte sie und kletterte über die Leiter vom Dach. „Ich helfe dir. Dann geht es schneller. Jede Minute zählt.“
Sie schauten in Kisten, schoben sie zur Seite, stapelten sie aufeinander. Kiste um Kiste, Wasserkanister um Wasserkanister, sämtliche Decken, ein Zelt, eine Plane, einen Spaten, Schlafsäcke, eine Rolle starkes Seil, Stiefel, fanden jedoch keinen Treibstoff. „Verdammt noch mal! Das kann doch nicht wahr sein!“, fluchte Tom. „Vielleicht ist der Kanister bei diesen bescheuerten Autos irgendwo anders festgemacht. Festgeschnallt am Kühler, oder weiß der Kuckuck!“ Er stapfte um das Auto herum, fluchte, trat gegen die Reifen, schlug mit der Faust auf den Kotflügel. „Wir müssen hier rauskommen, unbedingt. Wir müssen hier raus! Sicherlich suchen sie schon nach uns.“
„Nein, wird man nicht“, sagte Elena. „Im Camp erwarten sie uns erst morgen. Niemand weiß, wo wir sind. Aber vielleicht … Hamisi hatte doch etwas von einem Peilsender gesagt, den er ausschalten würde. Wenn wir den wieder einschalteten?“
„Du bist mein rettender Engel. Bist es immer gewesen!“ Tom stürzte zum Fahrerraum. „Hier, hier ist er.“ Er drehte am Schalter.
Rot leuchtete die Kontrollleuchte auf, was bedeutete: Niemand konnte sie orten.
Sie blieben an Ort und Stelle. Zu groß war die Angst, in der Dunkelheit die Piste zu verlieren oder ohne Treibstoff liegen zu bleiben.
Sie richteten sich für die Nacht ein. Der Wagen bot ihnen Schutz vor den wilden Tieren, nicht aber vor dem Keckern der Hyänen, dem Grollen der Löwen und den undefinierbaren Schreien. Und er bot auch keinen Schutz vor Geistern und Schreckgespenstern. Elena fiel ein Zitat von Ernest Hemingway ein: << Bei Tage ist es kinderleicht, die Dinge nüchtern und unsentimental zu sehen. Nachts ist das eine ganz andere Geschichte. >>
„Hast du Hunger?“, fragte sie.
„Nein, Durst. Hinten im Heck ist noch eine Flasche Cola.“
„Die wird warm sein.“
„Das spielt keine Rolle. Ich hole sie.“
„Du kannst nicht einfach aussteigen, wir sind hier nicht in Hamburg. Weißt du, welche Bestien da draußen lauern?“
„Bestien! Jetzt mach aber mal einen Punkt.“ Tom ließ den Blick durch die Dunkelheit schweifen. Noch zeigten sich keine Sterne. Er knipste die Taschenlampe an. Elena kniff erschrocken die Augen zusammen. Als der Lichtkegel über das Gras strich, wurde er von zwei Augenpaaren reflektiert, die sofort weghuschten. „Du hast recht. Ich werde nach hinten klettern. Schließlich müssen wir essen und trinken.“
Ungelenk quetschte er sich unter dem Lenkrad hinweg und drehte den Oberkörper. Elena sprach aus, was Tom dachte: „Es ist grausig, hier im Dunkeln mit dem toten Hamisi. Ich denke immerzu, gleich setzt er sich auf.“
„Sie haben zu viele schlechte Romane gelesen, junge Frau. Aber“, zog er sie auf, „grad hier in Ostafrika, der Wiege des Juju, gibt es so etwas ja tatsächlich noch. Menschen sterben und torkeln einige Tage später als Zombies orientierungslos durch die Dörfer, immer auf der Suche nach frischem Menschenfleisch.“
Elena hieb mit der Hand nach seinem Oberarm: „Hör auf mit dem Unsinn. Du machst mir Angst.“
Tom verrenkte sich, schlug das rechte Bein über das linke, versuchte eine Drehung, die ihn aussehen ließ wie einen Bodenturner mit Muskelkrampf. Der Versuch misslang und das einzige Ergebnis war, dass er sich den Kopf an der Decke stieß.
Er stöhnte: „Elena, ich komm da nicht hin. Probier du es mal.“
„Ich hab keinen Durst“, sagte Elena lapidar und lehnte sich demonstrativ nach hinten, sie schloss sogar die Augen.
„Komm schon. Du kannst doch da ´rüber klettern und etwas zu trinken holen.“
„Da ´rüber? Damit meinst du, genauer gesagt, über Hamisi.“
„Ist doch nur ein großer Schritt.“
„Dann mach du ihn doch, den großen Schritt.“
Toms Miene verfinsterte sich: „Okay, dann eben nicht.“ Mit Nachdruck öffnete er die Seitentür und stieg betont lässig aus.
„Komm wieder rein! Bist du verrückt?“ Aber er hörte nicht auf sie, sondern ging um den Wagen herum, öffnete die Heckklappen und wühlte zwischen den Gegenständen, bis er gefunden hatte, wonach er suchte.
Er stieg wieder ein und hielt ihr seine Trophäen entgegen, eine Packung Kekse, ein Glas Mixpickles, eine Flasche Cola und eine Flasche Whisky. Um Beifall heischend sah er sie an. „Na, wenn das mal keine anständige Mahlzeit ist“, freute er sich, woraufhin sie den Kopf schüttelte und auf den Whisky sah. „Über den Whisky freust du dich doch am meisten.“
„Richtig“, sagte er, öffnete den Schraubverschluss und nahm einen tiefen Schluck. Er hielt ihr die Flasche hin.
„Haben wir denn keinen Becher oder so?“, fragte sie.
„Doch, haben wir. Hinten im Wagen. Du kannst ja rüberklettern.“ Grinsend nahm er einen weiteren Schluck: „Das tut gut“.
Sie griff nach der Flasche. Als die Schärfe ihre Zunge benetzte, fiel ihr ein, dass es schon eine halbe Ewigkeit her war, seit sie etwas gegessen hatten.
„Reich mir mal die Cola und die Kekse. Wir müssen etwas essen.“
Die Kekse krümelten, als sie die Rolle öffnete. Einzelne fielen heraus und rieselten auf Elenas Leinenhose. Sie klopfte sie herunter. „Tom, hier, nimm ein Paar.“
„Nein, danke. Ich hab hier dran genug.“ Er deutete auf die Whiskyflasche.
„Es ist besser, wenn wir nüchtern bleiben. Wer weiß, was heute Nacht noch geschieht.“
„So ein bisschen Whiskey haut mich nicht um. Piet und ich haben in einer Nacht mal drei Flaschen geleert, weißt du noch?“ Er schmunzelte. „Das war, als wir die Schaufensterpuppe im Sperrmüll gefunden haben. Sie hatte nur noch ein Bein. Wir haben ihr deine Klamotten angezogen und sie Tante Ahab genannt. Weißt du noch, die knallgrüne Flauschjacke? Die trugst du zu der Zeit ständig. Und dann sind wir mit Tante Ahab zwischen uns um die Häuser gezogen, bevor wir bei uns landeten. Piet hat mit Tante Ahab im Arm obszöne Lieder vom Balkon gegrölt, und die Nachbarn dachten, dass du das gewesen wärst.
Haha, das Gesicht von Frau Rettich werde ich niemals vergessen. Sie zog es so fest zusammen wie einen Seesack, als sie dich rügte: „Elena, deinen Umgang solltest du auf jeden Fall überdenken.“ Dabei hast du geschlafen wie ein Engel.“
Elena lächelte. Frau Rettich war eine Freundin ihrer Mutter, und so machte die frohe Botschaft der nächtlichen Party die Runde durch die ganze Familie.
Damals hatten sie gerade ihre erste gemeinsame Wohnung bezogen. Elena war absichtlich zu Hause geblieben, damit Tom nicht dachte, sie würde anfangen zu „kletten“, worauf er „überhaupt keinen Bock“ hatte.
Am nächsten Morgen hing Tom halbschräg im Sessel, Piet schlief selig mit Tante Ahab im Arm auf dem Balkon, die Balkontür stand offen.
Als Elena Tom fand, versuchte sie, ihn zu wecken, aber er war völlig hinüber. Genau wie Piet.
Elena erinnerte sich gut an die grüne Jacke, und daran, wie sauer sie gewesen war, dass die Männer sie der Schaufensterpuppe angezogen hatten.
„Was ist eigentlich aus Tante Ahab geworden?“, fragte Elena.
Tom nahm noch einen Schluck Whiskey, wischte sich über den Mund und sagte: „Piet hat sie mit zu sich nach Hause genommen. Nach einer Party war sie verschwunden. Einer der Gäste hat sich wahrscheinlich in sie verliebt. Tja, wer weiß, wo sie jetzt ist.“ Mittlerweile waren die Sterne aufgegangen.
Elena drehte die Colaflasche auf. „Die ist gar nicht mehr so warm. Schmeckt ganz gut. Wasser wäre schöner.“
„Alles hinten drin“, wiederholte Tom, „Du brauchst nur …“
„ … rüber zu klettern, ich weiß“, vollendete Elena den Satz.
Sie schaute durch die Scheibe in die Sterne. Das Kreuz des Südens war jetzt deutlich erkennbar. „Wir waren damals noch sehr jung und zusammen, weil wir es wollten.“ Die Worte rutschten ihr heraus, bevor sie nachgedacht hatte.
Tom sprang sofort darauf an. Sein Kopf ruckte zu ihr hinüber: „Und jetzt willst du nicht mehr?“
Unruhig rutschte sie auf ihrem Sitz. Dieses Gespräch würden sie führen müssen, so oder so. Sie müssten sich Klarheit verschaffen, wie sie zueinander standen.
Innerlich sträubte sie sich dagegen. Wenn sie nicht aufpasste, könnte es das Ende ihrer Beziehung bedeuten. Er würde ihr die Gesprächsführung überlassen, so handhabten sie es schon seit langer Zeit, wie ihr jetzt klar wurde. Deshalb fühlte sie sich auch verantwortlich für den Ausgang. Sie würde Stellung beziehen müssen, dabei wusste sie im Moment gar nicht, wo sie stand.
Wenn sie ihren Beziehungskonflikt nicht anspräche, würde er das begrüßen und bereitwillig alles unter den Teppich kehren, wo es zusammen mit dem anderen Beziehungsmüll eine traurige Messieparty feierte.
Jetzt und Hier war die passende Gelegenheit für ein klärendes Gespräch. Keiner konnte den Raum verlassen oder einen wichtigen Anruf vorschieben, es gab keinerlei Ablenkung. Sie hatten nichts anderes zu tun, als die Zeit bis zum Morgengrauen zu füllen.
Sie atmete tief aus. „Okay, erzähl mir von deiner Affäre.“
Er nahm einen Schluck Cola, sagte aber lange nichts.
„Also?“, hakte sie nach.
Er zuckte die Schultern. „Es gibt nicht viel zu sagen, außer, dass es vorbei ist.“
Sein Blick fiel auf die Whiskyflasche und er ertappte sich dabei, wie er begann, die Schriftzüge rückwärts zu lesen: sleinaD kcaJ. Dann konzentrierte er sich. Sie hatte ein Recht zu fragen.
Seine Gedanken wanderten zu Sillevie, die beträchtlich jünger als er selbst war. Sie war genauso hübsch wie anspruchsvoll, was Tom anfangs nicht gestört hatte. Sillevie hatte ihn bewundert und angehimmelt, und er hatte sie dafür ausgehalten. Ein fairer Deal, sagte sich Tom, sobald sich sein Gewissen meldete. Eine Affäre war etwas, was ihm jetzt, da er auf die fünfzig zuging, zustand, und hatte nichts mit seiner Ehe oder Elena zu tun.
Es dauerte nur zwei Wochen, bis er feststellte, dass Sillevies reizender französischer Akzent aufgesetzt war.
Nach dem Dinner in einem exklusiven Hamburger Fischrestaurant sank sie satt und zufrieden auf ihrem Stuhl nach hinten und stöhnte: „Mann, bin isch volljefressen!“
Tom verschluckte sich fast an seinem Sauvignon.
Sie kicherte vergnügt und fuhr fort: „Dat letzte Mal, dat isch so jut jejessen hab, dat war mit Sven. Nee, war der witzisch! Der hat escht jedacht, isch wär aus Toulouse.“ Sie sprach das „e“ mit, sagte „-luse“. Spätestens in diesem Moment hätte Tom sich ohrfeigen können. Sein Lächeln verrutschte, als er sie betrachtete.
Danach hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet, sich im Büro verleugnen lassen, obwohl sie ihn mit Whats-App-Nachrichten, SMS und E-Mails bombardierte.
Tom nahm einen Schluck Whisky. Die viereckige Flasche mit den abgerundeten Kanten lag sicher und schwer in seiner Hand.
Tja, es konnte jedem Mann passieren, sich mit der falschen Frau einzulassen. Das hatte er es sich hundert mal beim Rasieren vor dem Spiegel wieder und wieder gesagt, aber das schlechte Gewissen Elena gegenüber blieb. War er vielleicht zu schwach für eine Affäre? Sollte er seinen Schuldgefühlen nicht einfach einen saftigen Tritt in den Hintern geben, damit sie sich wimmernd und winselnd aus dem Staub machten? Aber sie kamen immer wieder.
Da kam ihm die Idee mit der Safari. Es erschien ihm wie ein Akt der Selbstlosigkeit, als er die Tour im Internet plante, ohne Elena davon zu informieren. Bis er selbst Feuer fing. Er hatte die Affäre als Grund für ihre Reise schon fast vergessen.
Elena beobachtete ihn aufmerksam. Sie konnte förmlich sehen, wie sich seine Gedanken ein blitzschnelles Stelldichein gaben, aber sie würde nachhaken müssen, sonst würde er sie nie zu Worten formen.
„Komm schon, Tom. Erzähl mir davon.“
Er wog die Flasche in der Hand und überlegte, was er ihr sagen könnte, ohne als Lachnummer dazustehen.
Er dachte: „Schau dich an, Tom, du sitzt hier mitten in der Serengeti, in einem Geländewagen, ein Szenario, gemacht für Helden. Sogar den Whiskey hast du in der Hand. Aber eigentlich bist du nichts weiter als ein Idiot, der seine Ehe für eine Clownsnummer aufs Spiel gesetzt hat.“ Aber sagen konnte er das nicht.
Vielleicht sollte er Elena küssen und damit ihre Zweifel fortwischen. Ein Seitenblick genügte, um ihm von diesem Vorhaben Abstand nehmen zu lassen. Immer noch schaute sie ihn mit einer Mischung aus Vorwurf und Neugier an.
Er schaufelte hastig im Misthaufen seiner Lebenserfahrungen, und merkte schnell, dass er eine vergleichbare Konfrontation nicht kannte. Doch, vielleicht, als seine Mutter ihn beim Onanieren erwischt hatte. Sie hatte wortlos die Tür wieder geschlossen, und er hatte sich geschämt bis in die Haarwurzeln. Darüber gesprochen hatten sie nie, und als Erwachsener war ihm klar, dass seine Mutter aus Rücksicht auf ihn kein Gespräch begonnen hatte. Sie hatte der Situation, wie er jetzt wusste, nur geringe Bedeutung beigemessen als einem natürlichen Entwicklungsschritt und damit richtig gelegen.
Aber Elena maß seinem Seitensprung Bedeutung bei. Jetzt war er es, der lange und tief ausatmete.
„Sillevie hieß sie.“
„Heißt sie“, sagte Elena und hätte sich selbst ohrfeigen können, dass sie ihn schon gleich zu Anfang seiner Beichte unterbrach.
„Okay, heißt sie. Sie hat bei einer Betriebsfeier bedient, trug einen sehr kurzen Rock und sagte „´allo“ statt hallo. Anfangs dachte ich, sie meinte meinen jüngeren Kollegen Markus, aber nach einigen Blickkontakten steckte sie mir ihre Telefonnummer zu. So etwas ist mir noch nie passiert. Ihre Nummer brannte mir ein Loch in die Brusttasche und schon am nächsten Morgen rief ich sie an.“ Er warf einen kurzen Blick zu Elena, die ihm mit unbewegter Miene zuhörte. „Sie ging sofort an ihr Handy. Weißt du, was sie sagte? Sie hauchte: Komm, Tom-Tom.“ Tom errötete bei der Erinnerung und Elena spürte erstaunt, wie sich ihre Mundwinkel nach oben verziehen wollten. „Und ich Depp frage sie nach ihrer Adresse, rufe ein Taxi und fahre zu ihr. So begann es.“
Elena hob zu einer Erwiderung an, aber ihr fiel nichts ein. Also wartete sie ab. „Dann trafen wir uns weiterhin. Sie war meine Überstunden, wie du dir denken kannst. Sie sagte: „Komm, Tom-Tom“ und ich reagierte wie der Pawlowsche Hund.“
Tom rieb sich durch das Gesicht.
„War sie gut? Im Bett?“, konnte sich Elena nicht verkneifen zu fragen. Sie wusste selbst, dass es auf diese Frage keine Antwort gab, die sie zufrieden stellen würde. Denn würde er „nein“ sagen, widersprach es den Gegebenheiten. Also sagte er das, womit sie gerechnet hatte. „Es war anders. Neu, fremd, aufregend. Sie himmelte mich an und fand einfach alles toll, was ich machte, sagte oder vorschlug.“
„Das reicht“, sagte Elena. „Ich hab´s begriffen.“
„Du hast gefragt“, sagte er und hörte sich an wie ein trotziges Kind. Ein Kind mit einer Whiskyflasche. Elena starrte in die Dunkelheit. Dann sagte sie leise: „Und sie hat wirklich gesagt: Komm, Tom-Tom?“
„Ja.“
Sie blickte auf Tom, ihren Mann mit dem breiten Kreuz, dem wohlsituierten Bauch, und stellte sich vor, wie er sich auf diese Worte hin in Bewegung setzte. Es passte einfach nicht zusammen. Dies war der Zauberspruch, nach dem sie selbst so viele Jahre gefahndet hatte? Sie konnte nicht anders, aus ihrem Inneren blubberte ein Lachen nach oben, das sich nicht mehr unterdrücken ließ. Sie prustete los. Sie sah, dass ihr Lachen ihn verletzte, aber sie konnte nicht aufhören.
Tom sagte: „Sehr witzig. Ich liefere dir die Beichte meines Lebens und das ist deine Antwort?“
„Es ist nur“, brachte sie mühsam hervor, „dass ich tausende von Worten verschwendet habe, und sie braucht nur drei, damit du dich in Bewegung setzt.“
Er sah sie verständnislos an, und dann begann er ebenfalls zu lachen. Leise zuerst, aber dann hob er die Whiskyflasche: „Komm, Tom-Tom! Es ist wirklich nicht zu glauben.“
Elena hielt sich den Bauch. Sie lachten, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Als sie wieder ernst wurden, sagte Elena: „Und jetzt ist es vorbei?“
„Vorbei, zu Ende, aus.“ Er fügte hinzu: „Ich könnte ja sagen, nie wieder, aber wer kann das schon.“
„Ja, du hast recht“, sagte Elena. „Wer kann das schon?“ Vielleicht würde sie noch öfter darüber sprechen müssen, immer wieder, aber für´s Erste konnte sie es so stehen lassen.
Beide lehnten sich nach hinten, schauten in die Dunkelheit und hingen ihren Gedanken nach.
Elena erwachte und stellte nach einem Blick auf die Uhr fest, dass erst zwei Stunden vergangen waren. Ihre Blase platzte fast. Sie rüttelte sachte Toms Arm: „Ich muss mal. Ziemlich dringend sogar.“
Aber er schnarchte leise. Sie sah die halbleere Whiskyflasche auf dem Boden zwischen seinen Füßen.
Draußen war alles still. Sie nahm die Taschenlampe aus dem Fach im Armaturenbrett und schaltete sie ein. Die Strahlen tauchten die Grashalme in weißes Licht. Lockte das Licht Tiere an? Sie knipste die Taschenlampe wieder aus. Eine Feuerfackel wäre sicherlich angebrachter, davor fürchteten sich Tiere. Allerdings würde das Gras brennen wie Zunder. Aber sie hatte ja ohnehin keine Fackel.
Leise öffnete sie die Tür, stieg aus und hockte sich direkt hin. Auf diese Weise könnte sie bei Gefahr ins Auto flüchten. Rechts von sich hörte sie ein Fauchen. Es kam von einer Stelle unter dem Auto. Sie drehte sich um, konnte aber nichts sehen. Was fauchte nachts im Busch? Ein Mungo? Gab es die hier? Ihre Gedanken rasten, und fieberhaft versuchte sie, den Strahl zu unterbrechen, was ihr aber nicht gelang. Das Plätschern verebbte nicht einmal.
Jetzt raschelte es hinter ihr. Eine Schlange, schoss es ihr durch den Kopf. Obwohl ihre Blase noch nicht leer war, zog sie die Hose hoch und kletterte, so schnell es ihr möglich war, zurück in den Wagen. Erst, als sie die Tür geschlossen hatte, schloss sie ihre Hose.
Tom hatte von der Aktion nichts bemerkt. Er räusperte sich nur kurz, drehte sich mit verschränkten Armen auf die Seite und schlief weiter.
Auch Elena döste nach einer Weile wieder ein.
Als sie die Augen erneut öffnete, brauchte sie eine Weile zur Orientierung. Ihr Nacken schmerzte, und ihr Kreuz fühlte sich an, als wären jeder einzelne Wirbel um ein Stückchen versetzt. Sie gähnte, setzte sich auf.
Ungläubig schüttelte sie heftig den Kopf, schaute wieder nach vorne.
Auf der Motorhaube, auf Armeslänge von ihr entfernt, hockte ein Geier. Der neugierige Blick seiner gelben Augen verfolgte jeder ihrer Bewegungen.
Langsam wandte Elena den Kopf. In einem Umkreis von zehn Metern saßen noch weitere Vögel. Geduldig, als hätten sie alle Zeit der Welt, hockten sie auf ihren krallenbewehrten Füßen und starrten auf das Auto.
„Sie riechen Hamisi“, flüsterte Elena mehr zu sich selbst. Sie blickte über die Schulter nach hinten und schaute auf die rot-blau karierte Shuka, die Hamisi vollständig bis auf die Unterschenkel bedeckte. Auf seinen Schienbeinen waren deutlich Leichenflecke erkennbar, und durchdringender Gestank füllte den Innenraum aus.
Elena hatte Angst, das Fenster zu öffnen, besonders, da der Geier jetzt seinen nackten, rosafarbenen Kopf reckte und ihr durch die Windschutzscheibe direkt in die Augen starrte.
„Tom“, flüsterte Elena, aber er schnarchte mit halb offenem Mund weiter vor sich hin. Seine Position war seit gestern Nacht unverändert.
Elena griff nach seinem Hemdsärmel und zerrte an ihm. „Tom, du musst aufwachen. Wir haben Besuch.“
Jetzt öffnete Tom verschlafen die Augen. Sie waren verquollen. Sein Kinn zeigte graue Bartstoppeln und seine Alkoholfahne schwängerte die Luft, als er in ihre Richtung ausatmete. Er knurrte und setzte sich unwillig auf. Dann sah er den Geier.
Als Tom sich aufrichtete, hob der Geier bedächtig einen Fuß und ging wachsam ein paar Zentimeter zurück.
„Das nützt dir gar nichts“, fauchte Tom, drehte entschlossen den Zündschlüssel herum und startete den Wagen. Mit vorgeschobenem Unterkiefer und gesenktem Kinn haute er den Rückwärtsgang rein und ließ die Kupplung fliegen. Der Geier rutschte vom Kühler herunter und landete flügelschwingend im Gras. Die Entfernung zum Boden war zu gering, als das er sein Gleichgewicht hätte halten oder seine Flügel vollständig spreizen können. Kaum war er vor dem Kühlergrill verschwunden, schaltete Tom in den ersten Gang. Der Wagen schoss vorwärts. Dunkelbraune Federn stoben um das Auto und unter dem Fußraum polterte es.
Elena schaute nach hinten. Flatternd drehte sich der Geier am Boden im Kreis, desorientiert und schwerverletzt.
„Du musst noch mal zurück setzen“, sagte Elena, „er quält sich.“
„Das ich nicht lache“, sagte Tom. „Er wollte uns zum Frühstück verspeisen. Sieh mal, die anderen Vögel kümmern sich schon um ihn.“
Elena schaute zu den anderen Geiern, die im niedrigen Flug das Gras streiften und sich im Kreis um den Verletzten versammelten. Ein bläulicher Kopf zuckte nach vorne und hieb mit dem Schnabel nach ihm.
„Das ist ja grässlich“, sagte Elena und wendete den Blick ab.
Tom schaute nur verdrießlich nach vorn. Er wischte sich über die Stirn. „Ist noch ein Schluck Cola da?“, fragte er.
Elena schüttelte den Kopf.
„Wasser?“
„Ja, hinten. Das weißt du doch.“
Tom grunzte. Seine Augen waren rot unterlaufen.
„Mixpickles hab ich hier.“ Sie öffnete das Glas und fischte mit einem Finger in dem Essigwasser herum. Sie reichte ihm einen hellgelben Maiskolben, bei dem die Körner klein und weich wie Kaviar waren.
„Gib mir mal das ganze Glas“, sagte Tom. Elena reichte es ihm und sah erstaunt, wie er einen großen Schluck Essigwasser nahm. „Das belebt die Sinne. Altes Geheimrezept von Piet gegen einen Kater. Ich wüsste gern, wie viele Gläser Gurkenwasser er bei mir leer getrunken hat. Die Gurken trockneten danach im Glas immer ein.“
Elena verzog angewidert das Gesicht: „Toller Tipp für den Alltag. Du solltest das mal an eine Männerzeitschrift schicken. Vielleicht lässt sich die Idee ja vergolden.“
Ihre Stimme troff vor Ironie.
Tom wog bedächtig den Kopf: „Wir könnten Gurkenwasser ohne Gurken verkaufen, als Energy-Drink. In kleinen Dosen, die pro Stück dann zwei Euro neunundneunzig kosten. Zuerst müssten wir Kontakt mit Hengstenberg aufnehmen, die schwimmen sicherlich in Resten von Gurken- oder Sauerkrautwasser.
Zuerst kaufen wir nur zehn-Liter-Einheiten, in Eimern, die wir im Kofferraum abholen, aber in null komma nichts werden wir schon Tanker anschaffen müssen.“
Elena ließ ihn weiter fabulieren. Sie kannte diese Spinnereien zur Genüge von den Gelagen, die sie beide in ihrer Jugend mit Freunden abgehalten hatten.
Schmerzhaft stellte sie fest, wie sehr sie diese Art von nutzlosem Gerede vermisste. Trotzdem lachte sie: „Es wäre besser, wenn ich fahren würde. Du bist ja noch gar nicht nüchtern.“
„Wen soll das hier schon interessieren“, sagte Tom und wies mit einer ausholenden Geste auf die menschenleere Landschaft unter dem weiten Horizont.
„Puuh, stinkt das hier drin. Wir müssen sehen, dass wir Hamisis Leichnam loswerden.“ Tom drehte am Fensterhebel. Frische, kühle Luft strich durch den Wagen. „Falls wir an eine Wasserstelle kommen, könnten wir ihn waschen“, sagte Elena.
„Das fehlt mir noch“, knurrte Tom. „Wenn wir an eine Wasserstelle kommen, in der Krokodile sind, dann hab ich noch eine viel bessere Idee.“
Elena wollte schon etwas erwidern, biss sich aber auf die Zunge.
Tom war gereizt. Mit den Augen suchte er unruhig die vor ihnen liegende Landschaft nach einem Anzeichen von Zivilisation ab, und sie bemerkte, dass das inzwischen vertraute Gefühl von Angst sich wieder in ihr hocharbeitete.
Eine Weile fuhren sie schweigend weiter, als sie in der Entfernung eine dunkle Wolke sahen.
„Was ist das?“ Elena deutete in die Richtung.
„Ich kann es nicht erkennen. Könnte eine Regenfront sein. Sie scheint auf uns zuzukommen. Oder doch eher ein Sandsturm? Schließlich ist hier Trockenzeit. Aber es ist so schwarz, und der Sand hier eher hell. Gib mir mal das Fernglas.“
Sie reichte es ihm und er legte den Riemen hastig um seinen Nacken.
„Aber das ist ja… eine Herde irgendwas. Irgendwelche Tiere. Hunderte. Tausende! Sie kommen direkt auf uns zu! Verdammt, dies ist keine Piste, sondern ein verfluchter Wildwechsel. Elena!“ Mit aufgerissenen Augen starrte er sie wild an. „Elena, wir müssen hier weg.“
„Aber die Wand ist zu breit.“, schrie sie panisch. „Sie werden uns niedertrampeln! Fahr nach links, oder nach rechts, aber fahr.“
Tom riss das Lenkrad nach rechts, ohne auf den Untergrund zu achten. Rumpelnd bahnte sich der Land Rover seinen Weg und versuchte, der Wand, die sich unaufhörlich näherte, zu entkommen.
Gnadenlos verbrannte der Motor den letzten Tropfen Diesel, blieb stotternd stehen. Ungläubig drehte Tom den Schlüssel, betätigte die Zündung.
Erneut sprang der Motor an.
Elenas Hände griffen zitternd nach dem Haltegriff an der Decke, sie wappnete sich für die holprige Fahrt.
Der Motor stockte von neuem.
„Los, komm schon“, schrie Tom, sein Gesicht eine verzerrte Grimasse. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. „Du verdammtes Miststück“, brüllte er und hieb mit dem Fernglas auf das Armaturenbrett ein, bevor seine Stimme brach. Tränen der Verzweiflung schossen ihm in die Augen.
Auch Elena rannen die Tränen übers Gesicht.
Tom umklammerte schützend Elenas Kopf, die ihr Gesicht an seine Schulter presste. Sie schluchzten haltlos, riskierten nur hin und wieder einen Blick.
Unaufhaltsam raste die konturlose Masse machtvoll auf sie zu.
„Tu was, mach doch was! Es kann doch nicht einfach vorbei sein.“, kreischte Elena. Hilflos blickte Tom in alle Richtungen. „Da hinten, das Kopje. Wenn wir uns beeilen, könnten wir es erreichen, bevor die Herde hier ist.“
„Das ist ja der reine Selbstmord!“
„Hier sitzen zu bleiben ist selbstmörderisch“, schrie Tom.
„Und ihn?“, sie deutete mit dem Finger nach hinten, „Willst du ihn hier zurücklassen?“ „Wir haben keine Wahl.“ Er sah sie fest an und legte all seine Autorität in seine Stimme: „Bei drei machst du die Tür auf, springst heraus und rennst um dein Leben. Ich wünsche dir Glück.“ Er griff nach hinten, riss die Shuka von Hamisi herunter. Hamisis aufgeblähter Bauch konnte jeden Moment platzen, was den Gestank vervielfachen würde. Auf Elenas fragenden Blick hin sagte Tom: „Wir können sie vielleicht noch brauchen.“ Ohne eine weitere Bemerkung begann er zu zählen: „Eins, zwei, drei!“
Er machte keine Pause vor der letzten Zahl, dafür blieb ihnen keine Zeit.
Elena langte nach dem Türgriff, riss ihn zurück. Mit einem Satz sprang sie aus dem Auto, ohne zu schauen, ob Tom es ihr gleich tat. Dann raste sie los.
Das Kopje konnte durchaus weiter weg sein, als es den Anschein hatte. Entfernungen hatten in diesem Gelände eine andere Bedeutung. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel, als sie jetzt erkannte, dass es sich um Gnus handelte, die vereinzelt die gigantische Herde anführten.
Mit einem Blick zurück sah sie zwei Löwinnen, denen es gelungen war, ein Kalb von der Herde zu trennen. Mit weit geöffnetem Maul schrie es seine Todesangst heraus, und Elena dachte für einen absurden Moment, dass es ihr diese Aufgabe abnehmen wollte.
Sie bemerkte, wie ihr etwas rhythmisch gegen die Beine schlug, riskierte einen Blick nach unten. Ihr Schnürsenkel hatte sich gelöst. Wenn sie jetzt hinfiele, käme das einem Todesstoß gleich.
Das Kopje näherte sich. Sie schaute zur Herde. Bereits jetzt befand sie sich auf der Höhe des seitlichen Teils der massiven Herdenwand. Noch dreißig Meter, und sie hatte ihr Ziel erreicht. Mit letzter Kraft erkletterte sie einen kleinen Felsen und versuchte, möglichst hoch zu steigen.
Dann erst sah sie sich um. Wo war Tom? Sie schützte ihre Augen vor der Sonne, und entdeckte ihn. Er saß im Sand und hielt sich den Knöchel. Rufen war sinnlos, er würde sie nicht hören, und es würde ihm auch nicht helfen.
Mit einem Mal fiel jegliche Angst von Elena ab. Ihre Gedanken waren glasklar. Wenn sie jetzt auch nur eine Sekunde zögerte, setzte sie sein Leben aufs Spiel. Und damit hätte auch ihr eigenes seinen Sinn verloren.
Sie sprang die Felsen hinab und rannte zu Tom.
Er formte aus seinen Händen einen Trichter und schrie aus Leibeskräften.
Obwohl sie seine Worte nicht hörte, konnte sie an den Lippenbewegungen die Worte ablesen: „Kehr um, kehr um, um Himmels Willen!“
Sie dachte nicht daran. Als sie ihn erreichte, war die Wand bis auf wenige hundert Meter an sie herangerückt.
„Komm, ich stütz dich. Steh auf und halt dich hier fest. Ja, so ist es gut. Ich zieh dich hinter mir her. Es wird schon gehen, es muss einfach. Komm!“ Mit übermenschlicher Kraft gelang es ihr, ihn hinter sich her zu schleifen. Mit dem gesunden Fuß stieß er sich ab, so dass wie zwei späte Kneipengäste durch den Sand taumelten.
Elenas Blick fixierte das Kopje. Sie hatte keine Ahnung, wie sie dort herauf kommen sollten. Aber es kam stetig näher, und sie verwehrte sich den Blick auf den Wall aus monströsen Tierleibern, deren schweißglänzende Haut Moschusgeruch verströmten. Elena konnte sie riechen, so dicht waren sie bereits.
Tom stöhnte. Sein Fuß schlenkerte am Gelenk wie bei einer kaputten Gliederpuppe.
Am Kopje erklomm Elena den gleichen Felsen wie zuvor, zog Tom mit zusammengebissenen Zähnen hinter sich her. Die grauen Granitsteine schürften ihre Handflächen auf. Erst auf einer Höhe von drei Metern ließ sie ihn zu Boden gleiten.
Unter ihnen schoss die Herde vorbei wie Schokoflocken, die aus einer Tüte rieseln. Sie versuchte, den Land Rover zu orten. Mit den Augen suchte sie die Ebene ab. Weiter hinten spaltete sich die Herde in zwei Linien, die nach kurzer Strecke wieder zusammenfand. Dort musste der Wagen stehen.
Es dauerte nur eine kurze Zeit, die sich für Elena zu einer halben Ewigkeit dehnte. Tom hatte sich an sie gelehnt, schaute stumm auf die vorbeistiebende Herde.
Durch das Fernglas, von dem die rechte Linse gesprungen war, erkannte er einzelne Tiere, die auf das Fahrzeug zukamen und nach beiden Seiten auswichen. Aber es wurden immer mehr, immer mehr. Die einzelnen schwarzen Punkte verschwammen zu einer Masse aus Augen, Hörnern, und Hufen. Hufen, die rechts und links in einer Stampede vorbeirasten. Mit zerschmetternder Gewalt ließen sie bald die Scheiben bersten und drückten den Himmel des Fahrzeuges ein. Sie rollten den Wagen wie ein Spielzeug mal auf die eine, dann auf die andere Seite.
Links von ihnen, in Richtung der Hügel, erkannte Elena die Löwinnen, die ein Kalb und ein Alttier gerissen hatten. Die Tiere, die das Kopje passierten, waren noch in Panik, die folgenden aber verfielen schon in ein lockeres Traben, da sie spürten, dass die Gefahr fürs Erste gebannt war.
Die Leittiere vorne schauten nach hinten und einige begannen bereits, zu grasen, wobei sich die Jungtiere in die Mitte zwischen ihnen drängten. Jetzt lag der Blick auf den Geländewagen frei.
Sie rechnete damit, ein Trümmerfeld zu sehen. Verstreute Blechteile, Fetzen vom Autohimmel, irgendwo eine Felge, die in der Sonne glänzte.
Tom sagte mit vorgehaltenem Fernglas: „Das ganze Auto ist umgekippt. Die sind mit einer gewaltigen Wucht dagegen gedonnert. Und die Scheiben sind kaputt. Ganz schön zerbeult, das Auto. Die verdammten Gnus sind einfach darüber hinweg getrampelt.“
„Wir hätten das niemals überlebt, oder?“, fragte Elena, griff nach dem Fernglas, doch Tom wandte sich ab.
„Einen Moment noch“, sagte Tom und drehte an dem Rädchen, um die Schärfe einzustellen. „Verdammt. Da ist irgend ein Tier im Wagen! Ich kann es nicht genau erkennen, aber es zerrt …“
„Du meinst, an Hamisi? Wir müssen es verjagen! Es darf ihn nicht bekommen.“
„Bist du bescheuert?“, brauste er auf. „Das hier sind wilde Tiere, Elena. Keine Kühe!“
„Aber wir haben seinen Tod mit zu verantworten. Was ist mit seiner Familie? Können wir ihnen unter die Augen treten, um ihnen zu sagen, dass er erst vom Wagen erdrückt und“, sie zögerte, bevor es aus ihr herausbrach, „dann gefressen wurde? Wie sollen wir uns jemals wieder in die Augen schauen können? Gib mir das Massai-Tuch.“
„Die Shuka ist dazu gedacht, ein Flugzeug auf uns aufmerksam zu machen, und nicht, um damit wilde Tiere zu verjagen.“
„Es könnte aber funktionieren. Deshalb tragen die Massai es schließlich.“
Ohne seine Antwort abzuwarten, entriss Elena ihm das karierte Tuch. Tom rief ihr hinterher, aber sie hörte nicht auf ihn. Durch das Fernglas sah Tom, dass nun auch die Löwen von ihrer Beute aufsahen. Plötzlich fing Elena an, ohrenbetäubend zu schreien, während sie auf das Auto zu rannte. Ein Hyänenkopf tauchte in der Fensteröffnung auf und spitzte die Ohren.
Das flatternde Tuch mit beiden Händen über sich haltend rannte Elena auf sie zu. Tom wusste, dass nichts und niemand sie noch aufhalten könnte. Mit einer Mischung aus Angst und Stolz verfolgte er jeder ihrer Bewegungen.
Mit lautem Wutgeschrei war Elena nur noch knappe zwanzig Meter vom Auto entfernt. Die Hyäne zog die Lefzen nach hinten und zeigte ihr imposantes Raubtiergebiss. Es sah aus, als würde sie überlegen grinsen, gleichzeitig duckte sie sich, als wollte sie ihre Beute schützen.
„Hau schon ab, du Mistvieh!“, kreischte Elena mit sich überschlagender Stimme. „Weg mit dir! Such dir einen anderen Kadaver.“
Tom fiel ein, dass das Gewehr im Wageninnneren lag. Hoffentlich würde Elena nicht versuchen, es zu erreichen.
„Verschwinde, du stinkender Aasfresser! Ja, fletsch nur die Zähne, mich beeindruckst du damit nicht. Such dir ein anderes Fresschen.“ Sie begann, das Tuch über sich im Kreis zu drehen, und aus Toms Blickwinkel sah es aus, als stünde sie so nah an der Hyäne, dass sie sie jederzeit am Kopf treffen könnte.
Die Hyäne stellte jetzt die Vorderpfoten auf den Fensterrahmen und knurrte Elena wütend an. Ihr Nackenfell war gesträubt, von der ihr nachgesagten Feigheit ließ sie nichts erkennen.
Elena war jetzt so nah, dass sie den bestialischen Gestank der Tüpfelhyäne wahrnahm. Sie hob einen Stein auf, zielte auf die Hyäne. Der Stein verfehlte sein Ziel, traf statt dessen den Boden des Fahrzeuges mit einem metallischen „Plong“.
Das Maul der Hyäne troff vor Blut.
Unbändige Wut stieg in Elena auf, als sie einen blauen Fetzen Jeansstoff in der Lefze der Hyäne erkannte. „Grins nur, du Scheißviech. Und wenn ich dir alle Zähne einzeln zertrümmer, aber Hamisi bekommst du nicht.“ Wieder bückte sie sich nach einem Stein. Die Hyäne duckte sich.
Durch das Fernglas erkannte Tom, dass sie zum Sprung ansetzte. Er brüllte Elena zu, zurückzukommen. Die Sonne blendete ihn und stach ihm in die Augen. Sekundenlang konnte er nichts erkennen. Als er das Glas wieder hochnahm, sah er Elena, die erschöpft an der Unterseite des Land Rovers lehnte und aus Daumen und Zeigefinger ein O formte.
Sie grinste, als sie auf ihn zukam.
„Du bist doch völlig verrückt“ schimpfte Tom und ihr Lächeln erstarb augenblicklich. „Das war lebensgefährlich. Bist du verletzt? Schau mal, du blutest aus dem Ohr.“ Unwirsch strich er ihre Haare zurück. „Ein Glück, es ist nur ein Kratzer.“
Sie schniefte und wischte sich über die Augen: „Wozu, denkst du, habe ich das alles auf mich genommen, deine Rettung und die Rettung von Hamisis Körper? Glaubst du, ich lasse mir in letzter Sekunde alles aus den Händen reißen, wofür ich gekämpft habe? Wenn du das denkst und mich obendrein für verrückt hältst, dann kennst du mich schlecht.“ Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, aber er hielt sie fest.
Als er sie in die Arme nahm, merkte sie, dass er zitterte.
„Entschuldige, Elena, so meinte ich es nicht. Ich hatte solche Angst um dich. Mutig bist du. Die mutigste Frau, die ich kenne. Was sollte ich ohne dich nur tun?“
Langsam fand sie zu ihrem Lächeln zurück. „Keine Ahnung. Ein ruhiges Leben genießen vielleicht. Oder dich zu Tode langweilen.“
Sein Handy piepte. Er hielt es hoch: „Empfang! Yeah! Ich hab eine Mail bekommen.“
„Lass mal sehen“, sagte Elena.
Er öffnete sein Postfach und gemeinsam schauten sie auf die Buchstaben, die auf dem Display erschienen. „Ich liebe jetzt einen anderen. Sellawie! Sillevie“.
„Häh?“, sagte Elena, „Was soll das heißen?“
„Das, meine Liebe, ist Sillevies Französich. Sie heißt übrigens in Wirklichkeit ganz schlicht Silvia.“
Elena grinste: „Sie meint: C´est la vie? Ach, wie nett. Wie konntest du es nur mit ihr aushalten?“
„Ging ja nicht lange.“ Tom räusperte sich und wurde wieder ernst. „Vermutlich werden wir nun bald gerettet. vorher muss ich dir noch etwas sagen.“ Er nahm sie in den Arm. „Oh bitte, nicht noch eine Beichte“, sagte Elena und versuchte, von ihm abzurücken, aber er hielt sie fest.
„Elena, du hast mir mehr geschenkt, als ich es in Worten ausdrücken kann. Damit mein ich nicht nur, dass du uns das Leben gerettet hast oder die Farben am See, die ich ohne dich nie gesehen hätte, sondern das Funkeln, das du in mein Leben bringst.“ Elenas Augen wurden feucht, als sie antwortete: „Aus welchem Grund auch immer: Du wolltest mir meinen Lebenstraum verwirklichen und mir das Paradies zeigen. Aber weißt du was? Das Paradies ist ja in uns, und deshalb ist es völlig egal, wo wir sind.“
Hand in Hand gingen sie zurück zum Land Rover und breiteten die Shuka über Hamisi.
Die Lampe des Peilsenders leuchtete grün.
- Savannentrauma - 20. September 2018
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