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Wilma starrte durch die Dachluke in den sternenklaren Himmel. Sie presste ihre Nase tief in die flauschige Mähne ihres Stofflöwen, den Oma aus dem groben Leinen eines alten Kartoffelsacks genäht hatte. Das Schwanzende zierte Strohtau, die Augen waren Knöpfe verschiedener Größe: auf einem schwarzen großen lag ein kleiner weißer Knopf. Die Mähne aber war das Schönste: flauschig, weil sie aus dem Kragen eines abgetragenen Mantels ihres Vaters genäht war. Und an ganz wenigen Stellen konnte Wilma auch nach vier Jahren noch den Geruch des Vaters wahrnehmen. Letztes Weihnachten hatte Mama ihr den Löwen mit einem Brief von Papa gegeben. Mama hatte ihn ihr so oft vorgelesen, dass das graue Papier schon ganz weich und an den Knicken eingerissen war. Eine Stelle gefiel Wilma besonders gut: „Weißt Du,  Prinzessin, alle Löwen haben ein tapferes Herz. Wenn Du Dich mutlos und traurig fühlst, horche genau: dann kannst Du das Herz des Löwen schlagen hören. Das wird Dir wieder Mut machen.“ Wilma horchte sehr oft auf das Herz des Löwen.

Mama sagte, Papa sei in Frankreich geblieben. “Aber warum? Was will er denn da? Da versteht ihn doch keiner!“, hatte Wilma empört ausgerufen. „Kind, frag nicht, iss“, sagte Mama und Oma schob ihr ungeduldig den Teller mit den dampfenden Steckrüben zu. Als Wilma wütend nach ihrer Gabel griff, bemerkte sie nicht, wie Mama und Oma einen raschen hilflosen Blick tauschten.

Jetzt im Bett grübelte Wilma zum tausendsten Mal, ob Mama wusste, dass es ihre Schuld war, dass Papa nicht wiederkam. Beim letzten Heimaturlaub hatte sie sich so auf ihn gefreut, weil er immer so lustig war. Viel lustiger als Mama, die immer nur arbeitete. Er hatte sie ausgelacht, weil ihre ersten Milchzähne schon ausgefallen waren. „Wie eine kleine Hexe siehst du aus“, hatte Papa gesagt. Ihr Papa, der sie sonst immer Prinzessin nannte. Und Wilma wusste mit ihren sechs Jahren schon sehr genau, wie hässlich Hexen aussahen. Noch hässlicher als Kröten. Papa hatte sie in die Luft geworfen, aber sie hatte ihn angeschrien: „Du bist gemein! Hätt´st gar nicht wiederkommen brauchen!“ Auch am nächsten Tag und am übernächsten hatte sie noch geschmollt, aber Papa hatte es gar nicht gemerkt. Er war so still und traurig, fast schon so wie Mama. Und dann war Papa auch schon wieder weg.

Seit vier Jahren wartete Wilma bereits auf ihn, und er blieb einfach in Frankreich! Wegen ihrer Sturheit! Und Mama war ein einziger stiller Vorwurf. Jetzt, mit zehn Jahren, kam Wilma ihr damaliges Verhalten so kindisch vor. Der Papa hatte doch nur einen Witz gemacht. Wenn sie sich doch nur entschuldigen könnte! Leise rollten ihre Tränen in die weiche Löwenmähne.

Sonntags fuhr sie mit Mama und Oma den Onkel Hendrik und die Tante Hanna besuchen. Als der Pferdewagen abbog, stand er wie aus dem Boden gestampft da: ein Löwe auf einem Sockel, so groß und schwer, dass Wilma der Mund vor Staunen offenstand. Die Augustsonne schien durch die Eichenblätter auf das Denkmal und der leise Wind schien ihm Leben einzuhauchen. Bestimmt war er so groß wie die echten Löwen in Afrika.

Wilma konnte sich gut vorstellen, dass auch in ihm wie in allen Löwen ein Herz schlug. Der mächtige Löwe thronte gelassen im Sonnenlicht, und sein Fell leuchtete in den verschiedensten Ockertönen des Sandsteins, aus dem er geschaffen war. Der Sockel, auf dem er ruhte, war dreimal höher als er selbst.

Sie schirmte die Augen vor der Sonne ab und erkannte verschiedene Gravuren, die in den unterschiedlich hohen Stufen des Sockels eingemeißelt waren. Aber aus dieser Entfernung konnte sie sie nicht lesen. „Was steht denn da auf dem Löwendenkmal?“, fragte sie die Mutter. „Weiß nicht“, sagte Mama und schaute angestrengt nach vorn. „Sei doch nicht immer so neugierig!“ Ganz schmal wurden ihre Lippen und Wilma wusste, dass sie keine Antwort bekommen würde.

Als sie am Montag mit Schiefertafel und Butterbrot in die Schule kam, stand da der Hermann. Er wohnte in der Nähe des Löwendenkmals. Jetzt ließ er Knicker auf dem Pult rollen. „Hermann, das Löwendenkmal. Was steht denn da drauf?“ Hermann umschloss die Tonkugeln mit der Hand und schaute auf. „Da stehen die Namen von denen, die in Frankreich geblieben sind. Die sind alle tot, im Krieg erschossen oder“, Hermann ahmte mit den Hand den Flug einer Bombe nach, „ bchchchc- bumm- explodiert. Manche sind auch einfach erfroren. Zuerst fallen die Ohren ab, sagt mein Onkel. “ Damit widmete er sich wieder seinen Murmeln. Wilma starrte ihn fassungslos an. Ob Papas Name auch auf dem Denkmal stand? War er auch in die Luft geflogen oder erfroren?

„Ich will zum Löwen!“ Entschlossen hatte sich Wilma, die Hände in den Hüften, vor ihrer Mutter aufgebaut. „Was denn für ein Löwe? Du immer mit deinen krausen Ideen“, antwortete die Mutter kopfschüttelnd und sah von ihrem Waschzuber auf. Sie wischte ihre roten abgearbeiteten Hände an der Schürze ab. „Hier, spül die Weckgläser. Gleich kommen die Nachbarn zum Schlachten und wir machen Wurst.“ „Das Löwendenkmal“, ließ Wilma nicht locker. „Das Kriegerdenkmal!“ „Zum Spazierengehen ist wirklich keine Zeit, Wilma. Du siehst doch, dass wir alle Hände voll zu tun haben.“ „Dann geh ich eben allein“, sagte Wilma und trat bockig mit der Schuhspitze gegen das Tischbein. „Das lässt du fein bleiben, mein Fräulein. Hier, das Trockentuch. Und dass die Weckgläser schön sauber werden, sonst gehen sie im Keller wieder auf.“

Die Adventszeit brach an und Wilma hatte alle Vorbereitungen getroffen: zwei Schulbrote hatte sie sich aufgespart, Milch in eine Kanne gefüllt und Streichhölzer und eine Kerze beiseite gelegt, die sie in der Nachtischschublade, die sie nun öffnete, verwahrte. Es ging los.

Der Weg zum Löwen war weit. Von Volzel nach Emlichheim waren es mindestens vier Kilometer. Leise, ganz leise schlich sie sich aus dem Haus. Ihr Atem bildete Nebelschwaden,  und ein kalter Wind fuhr ihr ins Gesicht. Der sandige Weg war matschig, der Boden noch nicht durchgefroren. Sie hatte Omas Mantel über ihren gestrickten Pullover gezogen, so dass ihre Hände in den Ärmeln verschwanden. Ein Käuzchen rief und beklommen setzte Wilma ihren Weg fort. Die Füße in den großen Klumpen froren, obwohl sie zwei Paar Wollstrümpfe trug.

Es war sehr dunkel, und Wilma wurde den Eindruck nicht los, dass sie beobachtet wurde. Immer wieder drehte sie sich um, aber hinter ihr lag nur der lange Weg, den sie schon gegangen war. Dunkle Wolken verdeckten die Sterne, so dass Wilma Mühe hatte, den Boden zu erkennen. Ihr Herz raste, und sie war außer Atem. Ganz eng presste sie ihren Stofflöwen an sich und versuchte, seinen Herzschlag zu hören. Wenn ihr Vater tot war, hatte sie allein die Schuld daran. Er wäre zu Haus geblieben, wäre sie nur nicht so trotzig gewesen. Darüber gab es keinen Zweifel. Das Milchkännchen rutschte ihr aus den klammen Fingern, die gute Milch lief über den Weg und Wilma ließ es achtlos geschehen. Nur vorwärts.

Und dann stand der Löwe vor ihr. Grau und bedrohlich hob sich die Silhouette vor der Dunkelheit ab. Der Wind trieb nur noch einige Wolken vor sich her, so dass der Mond und die Sterne ihr Licht über die uralten Eichen gossen. Vorsichtig legte Wilma eine Hand auf den Sockel und ging langsam um ihn herum. „Vorwald. Eschebrügge.“, stand da. „Emlichheim. Heesterkante. Achterhorn.“ Sie ließ die Fingerspitzen über die Gravur gleiten. Unter jedem Ort standen, alphabetisch sortiert, einige Namen. Es begann zu nieseln. Ungeduldig setzte sie ihren Rundgang fort: Klein Ringe, Echteler. Hastig achtete sie nur noch auf die Anfangsbuchstaben der Ortsnamen, die wie eine Überschrift über den Namen prangten. Und da war es. Das V wie Volzel! Wenn Papa tot war, stünde sein Name hier! Und sie wäre unweigerlich eine Mörderin.

Ihre Finger glitten über die Gravuren, während sie aufgeregt las: A. J. Berg, J. H. Berg, J. Brünink, A. Schipper. Eine Wolke schob sich vor den Mond. Gut, dass sie Streichhölzer mitgenommen hatte. Sie zog ein Hölzlein heraus und strich es an der Schachtel entlang. Unversehens brach es ab. Das zweite entflammte, erlosch aber sogleich wieder. Der Wind nahm zu und verdichtete die Wolken zu einer undurchdringlichen Wand. Zwischen die Regentropfen mischten sich schwere nasse Schneeflocken, die am Mantel klebten und ihr schmelzend in den Nacken rannen. Es war so dunkel, dass sie nichts mehr sah.

In ihre Verzweiflung mischte sich Wut. Um sie herum war alles dunkel und leer. Es war nicht richtig, dass sie hier so verlassen stand, dass keiner da war, der ihre Fragen beantwortete und ihre nagenden Zweifel aus dem Weg räumte. Schließlich war sie doch noch ein Kind! Aber die Einsamkeit, die sie spürte, fühlte sich älter an. Resigniert stellte sie fest, dass sie es leid war, sich ständig fragen zu müssen, ob ihr Vater noch lebte. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schwor sich, nicht eher nach Hause zu gehen, bis sie Gewissheit hätte. Hier, genau hier würde sie den nächsten Tag erwarten und dann – endlich – die Namen lesen.

Da der Boden nass und kalt war, blieb ihr nichts anderes übrig als auf den Löwen zu klettern. Er würde sie schützen, dessen war sie sich sicher. Sie stieg aus den Klumpen und sammelte all ihre Kräfte. Ihre Finger fanden einen Spalt zwischen den Steinblöcken, so dass sie ihren Fuß auf die erste Stufe des Sockels stellen und den anderen nachziehen konnte. Sie tastete weiter. Ihre Hand fand die linke Hinterpfote des Löwens; die Rechte krallte sich an dem steinernen Schenkelknochen fest. Ja, hier fand sie einigermaßen Halt. Ihre Zehen spürte sie gar nicht mehr. Die Wollstrümpfe hatten sich voll Wasser gesogen, waren heruntergerutscht, ihre Arme kalt, rot und vom Sandstein zerschrammt. Ganz eng musste sie sich an das Gestein pressen, um einigermaßen das Gleichgewicht zu halten und nicht abzurutschen. Eine letzte Kraftanstrengung. Dann endlich lag sie oben auf dem Löwen, das Gesicht verschmiert von Dreck und Tränen, die auf der zerkratzten Wange brannten. Sie kramte ihren Stofflöwen aus der Manteltasche hervor und presste ihn vor den Mund, um nicht laut zu schluchzen. Das kleine Löwenherz konnte sie nicht trösten, dachte Wilma. Viel zu verzweifelt war sie. Also legte sie ihren Kopf sachte auf den kalten und rauhen Stein des mächtigen Löwen.

Im Einschlafen hörte sie das Löwenherz, dass ruhig, kräftig und tröstend schlug. Bumm – Bumm, Bumm – Bumm, Bumm – Bumm. Stark und beruhigend.

 

Als ihr Mann an die Haustür gepocht hatte, erkannte sie ihn durch das Fenster nicht. Erst als er ihr zurief, wusste sie, wer da klopfte. Völlig überwältigt blieb sie schreckensstarr stehen und griff haltsuchend nach der Stuhllehne. „Wer ist da?“ krächzte sie, obwohl sie bereits wusste, dass es ihr Mann war. Ihr lieber Mann! So oft hatte sie sich bang gefragt, ob er jemals wiederkäme. Immer wieder stellte sie sich sein Lachen, seine Hände und seine Mimik vor. Doch als sie ihn einließ, war außer seiner Stimme alles fremd.

„Wo warst du all die Jahre?“, war das Erste, dass sie hervorbrachte. Er ließ sich schwerfällig auf einen Schemel fallen, stützte die hageren Unterarme auf die Knie und winkte ab. „Später, später.“ Er seufzte: „Endlich bin ich hier! Sieh mal, unsere Milchkanne.“ Er lachte leise auf, „Die lag wie ein verfrühter Gruß auf dem Weg nach Emlichheim.“ Jetzt begann er zu weinen. Die Handrücken auf den Oberschenkeln starrte er auf einen Fleck auf den Dielen. Seine feingliedrigen Finger rangen miteinander, und mit zuckenden Schultern ließ er den Tränen freien Lauf. Hilflos betrachtete sie seine gebrochene Gestalt.

Schließlich stand er auf. Mit gebeugten Schultern ging er in Wilmas Kammer. Aber das Bett war leer.

„Wo ist meine Prinzessin? Wo ist mein Kind? Johanne!“ Fahrig schaute sich der Mann in der zerrissenen Uniformjacke im Zimmer um. „Wo ist Wilma?“ „Ich weiß es nicht! Ich weiß es ja nicht.“ „Aber die Milchkanne! Die lag auf dem Weg nach Emlichheim! Wie kam sie dorthin?“ Seine Frau starrte ihn an wie unter Schock.

„Wo ist Wilma?“ Jetzt schrie er,  und ging mit erhobenem Milchkännchen und gesenktem Kopf bedrohlich auf Johanne zu. Sie wich erschrocken zurück. Plötzlich durchzuckte es sie wie ein Blitz. „Ich weiß, wo sie ist. Komm, ich schirr die Pferde an.“

Wilma blinzelte, als sie sich von zwei Uniformärmeln umarmt fühlte. „Hallo, meine Prinzessin“, flüsterte ihr eine sanfte Stimme ins Ohr. „Papa?“ Er nickte und schmiegte den lockigen Kinderkopf in seine Halsbeuge: „Das Herz des Löwen hat geschlagen, nicht wahr?“ „Ja, es hat geschlagen. So fest wie jetzt deins.“ Als Wilma seinem liebevollen Blick begegnete, wurde ihr schlagartig klar: Es hatte gar nichts mit ihr zu tun gehabt, dass er gegangen war! Und auch die Mutter hatte ihr nie einen Vorwurf gemacht, sondern war verzweifelt gewesen. Wieso hatte sie das nicht erkennen können? Sie schaute zur Mutter: „Siehst du, Mama, jetzt ist alles gut. Ich hab gewusst, dass ich Papa beim Löwen finde!“ Johanne lächelte und legte die Arme um ihre kleine Familie. So standen sie lange still da, während die Sterne sacht schimmerten.

Sabine Jacob
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