„Also, Mama, wie immer! Du weißt ja, dass gleich Evelyn kommt und sich um dich kümmert.“ Er löschte das Licht im Flur und drückte auf den Fahrstuhlknopf.
Seit zwei Jahren schon lag seine Mutter im Wachkoma, am Leben gehalten durch ein Beatmungsgerät. Das rhythmische Keuchen, das die Maschine hervorbrachte – pffft, pffft, pffft- gehört seitdem zu Johanns Alltag. Es weckte ihn morgens und begleitete ihn abends in den Schlaf.
Der Aufzug war sofort da, perfekt! Heute würde es ein guter Tag werden. Kühler Wind strich über seine Stirnglatze. Die Haare, die ihm noch geblieben waren, kämmte er gewöhnlich mit einem nassen Kamm über die kahlen Stellen seines Kopfes. Doch schon ein leichter Luftzug genügte, um die dünnen Strähnen ihres Platzes zu verweisen. Der graue Gürtel, der seine Hose hielt, kniff ein bisschen in der Taille. Sein ebenfalls graues Jackett war in der Schulter etwas zu weit; nur wenn er aufrecht stand, passte es ganz gut.
Fast die Hälfte seines sechsunddreißigjährigen Lebens ging Johann diesen Weg: zum Möbelhaus Kramer.
Die Bäckereiangestellte, bei der sie die Frühstücksbrötchen holten, hatte seiner Mutter von der freien Stelle im Möbelhaus Kramer erzählt, und seine Mutter hatte unverzüglich dort angerufen. Ja, zu der Zeit war sie noch gesund, und die Bleidämpfe aus der Tiffanylampenmanufaktur hatten ihre Lungen und Nerven noch nicht geschädigt.
Im Möbelhaus Kramer wurde er allerdings nicht Johann genannt, sondern Hojo. Johann selber wusste nicht, was der Name bedeutete- er klang ja durchaus etwas verwegen; ein Attribut, dass auf niemanden weniger passte als auf Johann- tatsächlich war es aber ein Spottname und bezog sich auf Johanns zu weite Hosen. Hojo war die Abkürzung für Hosen-Johann.
Den Weg zum Möbelhaus kannte er wie seine Westentasche: 26 Straßenlaternen bis zur U- Bahn, dort 24 Stufen hinunter. Am Durchgang zückte er seine Jahreskarte. Die bekam er vom Möbelhaus. Zwar zogen sie ihm die Kosten dafür vom Lohn ab, aber Johann wusste es zu schätzen, dass er sich nicht selbst darum kümmern musste. Nach 3 Stationen stieg er am Niemandsplatz aus. 18 Stufen die Treppe hoch, 287 Schritte Pflasterstraße, den Ampelknopf drücken, die Straße queren. Dann den Bürgersteig, nochmal 374 Schritte, und schon war er da.
Dunkel lag das Möbelhaus vor ihm. Dieser Umstand erleichterte Johann. Er hatte gestern also alles richtig gemacht. Er nahm seinen Schlüssel, drehte ihn im Schloss und gab den Zahlencode rechts auf dem Täfelchen an der Tür ein. Ab hier gebrauchte er seine gesamte Willenskraft: rechts der Schalter für den Eingangsbereich: Dieser würde erst später umgelegt, wenn das Möbelhaus öffnete. Aber die drei Schalter für die Stromversorgung, das Sicherheitsnetz und die Toilettenräume für die Angestellten durfte er schon jetzt betätigen.
Er passierte das Büro seines Chefs. Herr Direktor Kramer käme erst später, meistens erst, nachdem Johann den Kundeneingang freigeschaltet hatte.
Wie immer würde der Direktor direkt in sein Büro gehen. Er würde weder nach nach links noch nach rechts schauen, denn sonst hätte er mit Sicherheit Hojo erblickt, was er bewusst vermied. Hojo erinnerte den Direktor stets an seinen Vater, den er insgeheim für einen Schwächling hielt. In den hohen Wellen des Kielwassers seiner dominanten Ehefrau hatte er gedümpelt, bis er schließlich einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Dass es bei dem Versuch blieb, wunderte niemanden wirklich. Denn schließlich ging alles schief, was er umzusetzen versuchte. Er war einfach der typische Verlierer, der Vater des Direktors. Anders als seine Mutter und er selbst, die sich das nahmen, was das Leben ihnen vorzuenthalten versuchte. Diese Erkenntnis war für den Direktor, obwohl offensichtlich, so doch stets von Schuldgefühlen begleitet, da sie den nötigen Respekt vermissen ließ. Schließlich handelte es sich um seinen Vater! Und um irgendetwas irgendwie wieder gutzumachen, beschäftigte er Hojo und bezahlte ihm mehr, als seiner Leistung entsprach.
Aber so wie damals seinen Vater empfand er auch Hojo als ärgerlich, ja teilweise sogar unerträglich. Wie er so lax zwischen den Möbeln stand, ebenso unbeweglich wie diese. Mit eingesunkenen Schultern und seinen ewig zu weiten Hosen.
Allerdings kümmerte sich Hojo zuverlässig um die Stromversorgung im Gebäude. Morgens und abends schaltete er alle Lichter an oder aus, je nachdem. In dieser Angelegenheit war er sehr zuverlässig. Aber ansonsten stand er bei der Nussbaumkommode und wartete auf Anordnungen, Kaffee zu kochen oder Kunden beim Verladen von Möbeln zu helfen.
Nach ein paar Jahren wurde dem Direktor dieser Anblick zu viel. Es mochte die kleine Geste sein, mit der Johann zum x- ten Mal die Schublade der– natürlich- leeren Nussbaumkommode öffnete, hineinspähte und sie vorsichtig wieder schloss. Vielleicht war es auch der anstehende 85 Geburtstag seines Vaters, jedenfalls war es soweit: Der Direktor drückte Johann Glasreiniger und Lappen in die Hand und versetzte ihn in die Lampenabteilung.
Zum Erstaunen des Direktors war Johann selig. Schalter, Schalter, Schalter! Runde, eckige und ovale; blaue, grüne, beige, zum Knipsen, zum Drehen und – Himmel- sogar zum Dimmen. Johann knipste nach Herzenslust. An und aus. Aus und an. Nach dem Betätigen der Schalter rieb er sie mit seinem weichen, dunkelblauen Wolltuch wieder blank. Manchmal regte sich so etwas wie ein schlechtes Gewissen in Hojo, nämlich dann, wenn ihm klar wurde, dass seine Vorliebe nicht so ganz der Norm entsprach. Dann putzte er die Schalter eben noch gründlicher, fuhr eben 7mal mit dem Tuch darüber statt fünfmal.
Im Laufe der Zeit stellte Johann gewisse Regeln auf, die nur er kannte: gab es zum Beispiel mittags in der Kantine Frikadellen, schaltete er alle Lampen mit runden Birnen an. Frikassee war komplizierter: die Stehlampen an, so wie auch die Nachttischlämpchen, alle anderen, außer den Kronleuchtern, blieben aus. Und wehe, ein Kunde schaltete eine Lampe ein oder aus! Dann ging Johann sofort mit neu erwachtem Selbstbewußtsein dazwischen und fragte, ob er helfen könne und welche Lampe der Kunde noch gern geknipst haben wolle. Beflissen und diensteifrig kam er den Wünschen der Kunden entgegen, und knipste sich durch den Tag.
Ja, alles hätte so schön so weiterlaufen können, wenn nur der Direktor nicht die absurdeste Idee überhaupt gehabt hätte. Der Teufel musste sie ihm eingeflüstert haben, anders konnte sich Johann die Geschehnisse im Nachhinein nicht erklären.
Es war ein ganz normaler Montagmorgen. „Also, Mama, wie immer! Du weißt ja, dass gleich Evelyn kommt und sich um dich kümmert.“ Er löschte das Licht im Flur und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Er brachte seinen Arbeitsweg hinter sich und betrat das Möbelhaus, das dunkel und beruhigend vor ihm lag. Den Schalter rechterhand ließ er wie immer unberührt und ging auf die drei Schalter zu, die betätigt werden mussten. Jedoch- seine Hand griff ins Leere.
„Das ist doch…“, flüsterte er heiser und bemerkte, wie sich Panik in ihm ausbreitete. „Jetzt ganz ruhig. Stopp mal.“ Er atmete tief ein. „Wo sind denn die Schalter?“ Seine Hand zitterte, als sie über die leuchtend orange Raufasertapete strich. Er bemerkte eine frisch gespachtelte Stelle, die sich kühler anfühlte als der Rest der Wand. Sein Mund fühlte sich plötzlich trocken an. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die er an die Wand lehnte, als ihm schwindlig wurde. „Ganz ruhig,“ suggerierte er sich selbst. Seltsamerweise dachte er in diesem Augenblick an seine erste Erektion, die genausoviel Verwirrung in ihm hervorgerufen hatte. „Irgendwo liegt hier ein Irrtum vor. Vielleicht träume ich?“ Er hielt die Augen weiterhin geschlossen und hoffte fanz fest, dass alles wie immer wäre, wenn er sie öffnete. „Guten Morgen, Hojo, “ dröhnte ihm da die Stimme des Direktors ins Ohr. „Neueste Neuerung im Möbelhaus Kramer: Zeitschaltuhren! Auf jeder Etage! Laufen alle vorne in der Verwaltung zusammen. Einmal programmiert, spart man sich etliche Laufereien. Und Energie! Ja, das Möbelhaus Kramer arbeitet umwelt- und…“ Den Rest vernahm Johann wie durch eine Wand aus grauer Watte. Zeitschaltuhren? Zeit- schalt- uhren?
Das erste Mal in den gesamten 17 Jahren meldete Johann sich krank. Er fühlte sich nicht gut, ja, eigentlich fühlte er gar nichts mehr außer einem körperlichen Schmerz und tiefem Entsetzen darüber, dass alle Schalter ihre Funktion eingebüßt hatten. Benommen verließ er das Möbelhaus Kramer und trat hinaus in den grauen Nieselregen. Er hielt den Kopf geneigt, so das der Regen lief ihm ins Genick lief. Sein verschossenes Cordjacket hatte sich bald mit Wasser vollgesaugt und hing schwer an seinen Schultern. „Keine Schalter mehr, keine Schalter mehr, keine Schalter mehr,“ ging es ihm als Gedankenkarussel im Takt seiner Schritte durch den Kopf. Er öffnete die Wohnungstür.
Pffft, pffft, pffft,…. Das vertraute Geräusch. Er zog das klamme Jacket aus und wollte es an die Garderobe hängen. Moment mal – er hielt inne. Keine Schalter mehr? Doch, doch, einer war noch da. Seine Augen hefteten sich auf das anzügliche Rot des Atemgerätschalters. Ein verlockendes Glücksgefühl breitete sich in warmen Wellen in ihm aus. Hatte er zuerst nur den Kopf gewandt, drehte er nun auch die Schulter in die Richtung der heilversprechenden Quelle. Ein seliges Lächeln erhellte sein Gesicht, als er einen Fuß vor den anderen setzte.
- Savannentrauma - 20. September 2018
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