Mausmenschen
Als der letzte Patient für heute mein Sprechzimmer betrat, beschlich mich ein ungutes Gefühl und die Ahnung, dass ich mal wieder zu spät ins Krankenhaus käme. Natürlich ließ ich mir von meinen Gedanken nichts anmerken, sondern faltete meine Hände auf dem Schreibtisch und beugte mich leicht vor: „Mister Twelve, was kann ich für Sie tun?“ Der Monitor zu meiner Linken zeigte mir Mr Twelve als neuen Patienten. Als einziger Eintrag zu seiner Person stand der heutige Termin auf dem Display und darunter eine Reihe von Fragen zu Vor- und chronischen Erkrankungen, die jedem neuen Patienten gestellt werden sollten. Das war reine Routine und hatte in den meisten Fällen gar keine Relevanz für die aktuelle Diagnose.Wie immer würde ich sie selbst beantworten. Das sparte Zeit. Denn ich wollte so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Dort wartete ein neuer Dienstplan auf mich und ich war gespannt, ob ich endlich für eine Operation zugelassen worden war. Mein Gegenüber trug ein schäbiges Tweedjackett mit [...]
Löwenherz
Wilma starrte durch die Dachluke in den sternenklaren Himmel. Sie presste ihre Nase tief in die flauschige Mähne ihres Stofflöwen, den Oma aus dem groben Leinen eines alten Kartoffelsacks genäht hatte. Das Schwanzende zierte Strohtau, die Augen waren Knöpfe verschiedener Größe: auf einem schwarzen großen lag ein kleiner weißer Knopf. Die Mähne aber war das Schönste: flauschig, weil sie aus dem Kragen eines abgetragenen Mantels ihres Vaters genäht war. Und an ganz wenigen Stellen konnte Wilma auch nach vier Jahren noch den Geruch des Vaters wahrnehmen. Letztes Weihnachten hatte Mama ihr den Löwen mit einem Brief von Papa gegeben. Mama hatte ihn ihr so oft vorgelesen, dass das graue Papier schon ganz weich und an den Knicken eingerissen war. Eine Stelle gefiel Wilma besonders gut: „Weißt Du, Prinzessin, alle Löwen haben ein tapferes Herz. Wenn Du Dich mutlos und traurig fühlst, horche genau: dann kannst Du das Herz des Löwen schlagen hören. Das wird Dir wieder Mut machen.“ Wilma horchte [...]
Klick!
„Also, Mama, wie immer! Du weißt ja, dass gleich Evelyn kommt und sich um dich kümmert.“ Er löschte das Licht im Flur und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Seit zwei Jahren schon lag seine Mutter im Wachkoma, am Leben gehalten durch ein Beatmungsgerät. Das rhythmische Keuchen, das die Maschine hervorbrachte - pffft, pffft, pffft- gehört seitdem zu Johanns Alltag. Es weckte ihn morgens und begleitete ihn abends in den Schlaf. Der Aufzug war sofort da, perfekt! Heute würde es ein guter Tag werden. Kühler Wind strich über seine Stirnglatze. Die Haare, die ihm noch geblieben waren, kämmte er gewöhnlich mit einem nassen Kamm über die kahlen Stellen seines Kopfes. Doch schon ein leichter Luftzug genügte, um die dünnen Strähnen ihres Platzes zu verweisen. Der graue Gürtel, der seine Hose hielt, kniff ein bisschen in der Taille. Sein ebenfalls graues Jackett war in der Schulter etwas zu weit; nur wenn er aufrecht stand, passte es ganz gut. Fast die Hälfte seines [...]
Holznapf oder Goldener Teller
„Uuund Kamera ab!“ „Heute sind wir im sogenannten Restaurant `Holzschwammerl`. Wollen doch mal sehen, was die Küsche dort für uns, liebe Zuschauer, bereit hält. Hoffentlisch ist es was Leckeres. Was wirklisch Delikates habe isch lange nischt mehr gegessen, so wie zum Beispiel die gerösteten Fritten mit frittierten Stäbschen vom Fisch, die wir letzte Woche im „Schützenhof“ verkostet haben. Jetzt sind wir gespannt, was uns das `Holzschwammerl“ zu bieten hat. Bis gleisch nach der Werbung!“ „Und Kamera aus! O. K., Uli, gut gemacht. Fred, hast du alles im Kasten? Okay.“ Vollmer, der Regisseur, knotete seinen Schal vor dem Hals zusammen. Im einen Mundwinkel hing ein angerauchter, kalter Zigarillo, während sich im anderen weißer Speichel gesammelt hatte. Vollmer würde alles dran setzen, dass diese Sendung „Holznapf oder Goldener Teller“ ein Quotenrenner würde, auch mit einem mehr als knappen Budget. Das Konzept hatte er von der Konkurrenz abgekupfert und aufgepeppt. Bei dem neuen Fernsehsender Contra 1 war sie Sprungbrett zum Erfolg. Er würde [...]
Das zweite Gesicht
Sie schob die Krümel, die vom Frühstück übrig geblieben waren, in der Mitte des Tisches zusammen. Gedankenverloren starrte sie auf das Häuflein. So viele Brösel. Ihr kam es vor, als seien sie das Abbild ihres Lebens. Über zwanzig Jahre lang lebte sie nun mit ihm zusammen. Nein, sie waren nicht verheiratet, natürlich nicht. Das hätte nicht zu seinem Selbstverständnis als Künstler gepasst. Seiner Ansicht nach, und das war damals - natürlich- auch ihre Ansicht, waren alle Konventionen als Spießbürgerlichkeit zu verabscheuen. Wie sehr hatte sie ihn damals dafür bewundert! Sie hatte es geliebt, wenn er mit großer Geste von seinen geradezu orgiastischen Erlebnissen während seines Schaffens erzählte. Natürlich nicht ihr, aber seinen Künstlerfreunden und Mäzenen oder eben allen, die es hören wollten. Seine Hände untermalten weit schweifend seine Worte, während sein verklärter Blick in Sphären weilte, in die ihm seine Zuhörer häufig nicht folgen konnten. Und seine Sätze beendete er gerne mit den Worten: `Ne pas`, womit er seine Bildung [...]